Kolumne: Gesellschaftskunde Talent für den Moment

Düsseldorf · Der Mensch lebt im Modus der Routinen - und verlernt das Gespür für Augenblicke.

Die Moderne geht einher mit einer Verdichtung des Zeitempfindens. Viele beschreiben das als Beschleunigung. Immer mehr muss in immer kürzerer Zeit erledigt werden, oft auch noch mit weniger Personal. Diese Verdichtungsprozesse geschehen dazu selbst immer schneller, der Einzelne bekommt also mit, wie er Aufgaben erledigen soll, für die früher mehrere Kollegen mehr Zeit bekamen.

Und so stellt sich das Gefühl ein, im Schleudergang zu leben, oft nicht zu dem zu kommen, was eigentlich wichtig ist und dem Leben womöglich mehr Tiefe, mehr Gewicht, mehr Verwurzelung in der Zeit geben könnte.

Allerdings begleitet dieses Beschleunigungsempfinden die Menschen schon lange. Und es bezieht sich nicht nur auf ihr Arbeitsleben, sondern auch auf die privat verbrachte Zeit. Es hat also vielleicht nicht nur mit der Verdichtung von Arbeitsabläufen zu tun, sondern generell mit einem veränderten Zeitbewusstsein - mit einer "Rationalisierung von Zeit", wie der Soziologe Andreas Reckwitz schreibt.

Der Mensch lebt und fühlt im Modus der Routine. Er durchlebt bestimmte Abläufe immer wieder, Arbeitszeit, private Zeit, Arbeitszeit und so fort. Er muss pünktlich zur Stelle sein, Fristen einhalten, kurze Phasen für sich ergattern. Und weil er zugleich in einer Kultur lebt, die Zukunft mit Fortschritt gleichsetzt, lebt er diese Routinen mit dem Gefühl, sie für ein besseres Morgen nutzen zu müssen. So treibt er die Verdichtung der Wiederholungen selbst voran - und verliert das Empfinden für den Moment.

Es ist schon seltsam, dass es so schwer geworden ist, sich mit allen Sinnen, allem Empfinden auf Momente einzulassen, Falltüren zu öffnen, Routinen zu unterbrechen und sich dem Sog der Zukunft zu entziehen. Im Sport oder der Kunst öffnen sich solche Luken manchmal noch. Kostbare Augenblicke.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(dok)
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