Analyse Demokratie lebt vom Kompromiss

Berlin · Analyse Der politische Kompromiss ist aus der Mode gekommen. Die rechtspopulistische AfD lehnt ihn ab. Schuld sind aber auch Politiker, die ihn durch Kuhhandel in Verruf bringen. Eine gefährliche Entwicklung.

 Bundeskanzlerin Angela Merkel und Boris Johnson, Premierminister von Großbritannien, geben einander die Hand (Symbolbild).

Bundeskanzlerin Angela Merkel und Boris Johnson, Premierminister von Großbritannien, geben einander die Hand (Symbolbild).

Foto: dpa/Kay Nietfeld

Es ist bestimmt kein Zufall, dass einer der Gründerväter der Europäischen Union eine ebenso eingängige wie originelle Definition für den Begriff Kompromiss gefunden hat: „Der Kompromiss“, so formulierte einst der belgische Staatsmann Paul Henri Spaak, „ist die Kunst, eine Torte so aufzuteilen, dass jeder glaubt, das größte Stück zu haben.“ Es gibt wohl kaum eine andere Gemeinschaft auf der Welt, in der die Notwendigkeit von Kompromissen und der ständige Aufruhr um das Teilen der Torte so groß ist wie in der Europäischen Union. Doch genau dieser Umstand ist auch Teil der derzeit so schwierigen Lage der EU: Der Kompromiss ist aus der Mode gekommen. Dabei ist er schon die Eskalationsstufe, wenn sich ein Konsens nicht herstellen lässt.

Der politische Kompromiss ist in Verruf geraten – meistens wird er nur noch mit den Zusätzen „fauler“, „halbgarer“ oder auch „schlechter“ versehen. Dabei ist der Kompromiss das Lebenselixier der Demokratie. Rigorosität, Radikalität und Unterdrückung der Andersdenkenden ist nur etwas für Autokratien und Diktaturen. Die Demokratie braucht den Ausgleich. Die Weimarer Republik ist auch schon daran gescheitert, dass ihre Vertreter nicht mehr zum Kompromiss fähig waren – ein Schlüsselmoment der Geschichte ist hier das Scheitern des Kabinetts Müller 1930 im Streit um einen Viertelprozentpunkt Beitragssatz für die Arbeitslosenversicherung. Der Historiker Heinrich August Winkler beschreibt die Zäsur wie folgt: „Im Rückblick gibt es keinen Zweifel, dass an diesem Tag die Zeit relativer Stabilität definitiv zu Ende ging und die Auflösungsphase der ersten deutschen Demokratie begann.“

Es gibt ein paar gute Gründe, warum man im Jahr 2019 des Kompromisses müde ist. In den vergangenen 14 Jahren wurde Deutschland zehn Jahre lang von einer mittlerweile nicht mehr so großen Koalition geführt. Ein solches Bündnis ist eine Art regierender Kompromiss. Wenn sich zwei Volksparteien zusammenschließen, haben sie den Anspruch und leben mit der Erwartungshaltung, es einfach allen recht machen zu müssen. Das kann dauerhaft nicht funktionieren.

Den klassischen politischen Kompromiss darf man auch nicht mit einem Kuhhandel verwechseln. Ein aktuelles Negativbeispiel aus diesem Jahr: Die Besetzung des Postens des EU-Kommissionschefs. Zur Erinnerung: Für den Job waren im europaweiten Wahlkampf der CSU-Politiker Manfred Weber und der niederländische Sozialdemokrat Frans Timmermans angetreten. Weber aber wollte der französische Präsident Emmanuel Macron nicht als Kommissionschef akzeptieren, Timmermans wiederum konnte keine Mehrheit im Parlament erzielen. Also zauberte Macron als Alternative zu Weber die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen aus dem Hut. Damit bleibt die EU-Führung bei der EVP und in deutschen Händen. Von der Leyens Wahl ist damit das klassische Ergebnis eines politischen Kuhhandels. Unabhängig davon, dass sie als EU-Kommissionschefin einen guten Job machen könnte, bringen solche Geschäfte die Tugend des politischen Kompromisses in Verruf und frustrieren die Bürger.

Manchmal sind die Fronten so hart, dass es eines Moderators oder Mediators bedarf, um noch zu einem Kompromiss zu kommen. Man kennt das zum Beispiel von Tarifverhandlungen. Oft geht es nicht nur um die letzten Stellen hinter dem Komma, sondern auch darum, dass alle Beteiligten ihr Gesicht wahren und den Rückhalt der eigenen Leute nicht verlieren. Beispiel Stuttgart 21. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen um den neuen Großbahnhof holte man Heiner Geißler als Schlichter zwischen Landesregierung und den Gegnern des gigantischen Bauprojekts. Geißler, früherer CDU-Generalsekretär, Vordenker und Querdenker, einstiger konservativer Scharfmacher, späteres Mitglied der Globalisierungsgegner Attac, hat als Schlichter vor allem das Tortenprinzip beherzigt. Alle kamen zu Wort, wurden ernst genommen, allen wurde von ihm höchstpersönlich die Leviten gelesen. Sein Kompromiss war am Ende rechtlich nicht bindend und hat auf den weiteren Bau des Bahnhofs keine große Auswirkung. Geißler erreichte im Grunde genommen nur die Anmutung eines Kompromisses. Seine Mission „Frieden für Stuttgart 21“ erfüllte er dennoch weitgehend.

Mit Stuttgart 21 kam vor knapp zehn Jahren auch der Begriff des Wutbürgers auf. Den Wutbürger zeichnet aus, dass er von Kompromissen und Sachzwängen nichts mehr hören will. Er pocht auf seinen Standpunkt – oft aus der Motivation heraus, den eigenen Wohlstand und die eigenen Lebensumstände zu verteidigen. Die Politik stellen die neuen Kompromiss-Verweigerer vor eine große Herausforderung. Denn meistens vertreten sie nur Partikularinteressen. Die Wutbürger von Stuttgart 21 konnten damals die Grünen in Baden-Württemberg einsammeln. Viele von ihnen landen aber auch bei der AfD, weil sie den Kompromiss mit anderen Parteien verweigert.

Diese Entwicklung ist gefährlich. Ein politischer Kompromiss bedeutet oft eine Zumutung für alle Beteiligten. Aber die Zustimmung verhindert, dass sich Gruppen oder Parteien in eine radikale Haltung flüchten können. Die Kompromisslosigkeit hingegen führt zur Spaltung oder Zersplitterung einer Gesellschaft und im schlimmsten Fall zum Untergang der Demokratie. Denn wenn sich zwei oder mehrere Parteien unversöhnlich gegenüberstehen, wie derzeit in den USA oder Großbritannien zu beobachten, besteht die Gefahr, dass sich am Ende die radikalen Kräfte auf beiden Seiten durchsetzen. Also eben gerade jene, die in ihrer Kompromisslosigkeit besonders dominant auftreten.

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