Der die Stasi besiegte

Der Staatssicherheitsdienst warf den Bürgerrechtler Roland Jahn aus der DDR, um ihn loszuwerden. Stattdessen wurde er so zur Schlüsselfigur des Widerstandes. Heute ist er Chef der Stasi-Behörde.

Leipzig Der Mann hinterfragt alles. Damals, zu DDR-Zeiten, waren es Hammer und Zirkel, die Insignien der sozialistischen deutschen Diktatur. Jetzt sind es Meißel und Stein. "Ist das wirklich in Stein gemeißelt?", fragt Roland Jahn, Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagenbehörde, als er am Sonntag mit Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung im Schatten der Nikolaikirche einen Tee trinkt.

Es geht um eine Leipziger Stadtratsentscheidung, an die Jung nicht rühren will. Jahn sieht das anders: "Einen Beschluss kann man doch auch wieder ändern!" Ändern. Nichts als unverrückbar hinnehmen. Das ist der Hauptcharakterzug des neuen Bundesbeauftragten. So war es schon im September 1982. Die Polen begehren gegen die Obrigkeit auf? Und die DDR-Menschen schauen nur zu? Nichts für Jahn. Der kauft sich für acht Pfennig im Schreibwarenladen eine polnische Flagge, schreibt "Solidarität mit dem polnischen Volk" drauf und fährt damit durch Jena. Die Stasi holt ihn vom Rad, steckt ihn ins Gefängnis. 22 Monate Haft.

Denn Jahn ist da schon seit Langem im Visier der Stasi. Zum 1. Mai 1977 trägt er ein leeres Plakat durch die Straßen, um gegen die Zensur zu protestieren. Die Reaktion des Staates: Sie wirft ihn von der Uni. Aber er lässt nicht locker, schaltet provokativ eine Todesanzeige für einen Freund, der in der Stasi-Haft gestorben ist. Der Staat zeigt seine ganze Härte, hält sich an Jahns Familie, nimmt auch seinem Vater den Beruf. Oft hat er sich in diesen Jahren gefragt, ob es richtig ist, durch sein Aufbegehren so viel Leid auf seine Liebsten zu ziehen. Jahrzehnte später spricht er sich mit seinem Vater aus. "Du hattest recht", sagt dieser vor seinem Tod. Es ist einer der besseren Momente in Jahns Leben.

Einer der schlimmsten wird nachträglich zu seinem größten Glück. 1983 will die Stasi das Jahn-Problem lösen. Sie schließt ihn gefesselt in ein Abteil eines D-Zuges nach München ein. Und denkt, dass sie ihn los ist. "Es war der größte Fehler, den wir machen konnten", räumt ein Stasi-Offizier später ein. Denn Jahn wird so zur Schlüsselfigur der friedlichen Revolution.

Als TV-Journalist für die ARD hat er nun die Möglichkeit, die ungeschminkte DDR-Wirklichkeit mitsamt der unerschrockenen Opposition in die DDR-Wohnzimmer zu bringen. Ihm vertrauen die westdeutschen Kollegen, dass das, was er bringt, die Wahrheit ist. Und ihm vertrauen die DDR-Dissidenten, dass sie bei ihm mit ihren Informationen in sicheren Händen sind. Schon 1987 legt sich Jahn fest: "In zwei Jahren fällt die Mauer."

Umso nervöser wird die Stasi, die spürt, wie ihr die Kontrolle entgleitet. Natürlich wissen die Bürgerrechtler, mit denen Jahn in Leipzig telefoniert, dass jedes Wort abgehört wird. Deshalb sprechen sie in Chiffren. Wenn sie "der Italiener" sagen, weiß Jahn, dass sie Bärbel Bohley meinen. Die Stasi-Lauscher wissen es nicht.

Und sie müssen mit ansehen, wie Jahn den unerschrockenen Leipziger Hilfskrankenpfleger Uwe Schwabe zum TV-Vorbild macht. Weil dieser nach den montäglichen Friedensgebeten den Protest auf die Straße trägt. Zuerst mit einem Dutzend Gleichgesinnter, dann mit 100, mit 1000 – Jahn bringt verlässlich die Teilnehmerzahlen ins Fernsehen.

Dann der 9. Oktober 1989: Die Stasi droht mit Blutvergießen. Aber die Leipziger fürchten sich nicht. Auch Jahns Kontaktmann Siegbert Schefke nicht. Vor seiner Tür wartet die Stasi. So macht er sich über die Dächer auf den Weg, bezieht auf einem Kirchturm mit Kamera Position. "Wenn sie heute schießen, dann habe ich das dokumentiert", sagt er sich. Und hält drauf. Wie sie nicht schießen. Sondern vor 70 000 Leipzigern zurückweichen. "Ich wusste, diese Bilder werden nicht nur Leipzig verändern, sondern die Welt", sagt Schefke. Denn Jahn sendet sie. Und verändert die Welt.

Die dramatischen Ereignisse werden 22 Jahre später wieder lebendig. Nicht Jahn, Schwabe und Schefke sprechen darüber. Sondern Roland, Uwe und Siggi. Denn Jahn ist Teil eines besonderen Freundeskreises. Einer mutigen Minderheit, die die schier übermächtige Stasi besiegte. Und jetzt ist Jahn sogar Chef der Stasi-Akten. Weil die Kanzlerin wieder einen Bürgerrechtler haben wollte. Da fiel der Blick auf Jahn. Auch wenn der alles andere als bequem ist. So hat er mit Hilfe des Bundestages dafür gesorgt, dass 45 Ex-Stasi-Mitarbeiter seine Behörde verlassen müssen. Das hat das Personal intern polarisiert. Ob denn nicht jeder eine zweite Chance verdient hat? Wo sie sich doch so lange nichts zuschulden kommen ließen. Aber Jahn sieht die von der Stasi Traumatisierten, die auf ihre einstigen Peiniger treffen. Und ändert den Zustand. Auch wenn es 20 Jahre anders lief. Jahn bohrt so lange, bis es geht. Leipziger, die ihn in dieser Nacht erkennen, greifen spontan nach seiner Hand: "Danke. Machen Sie weiter so."

Und Jahn macht weiter. Etwa beim Stasi-Museum in Berlin. Wenn die Touristen Zeit haben, ist die Behörde zu. Jahn lässt gegen viel internen Widerstand nicht eher locker, bis das Haus auch sonntags öffnet. Auch in Leipzig besucht er seine Mitarbeiter, versucht sie zu motivieren. Und lobt, dass sie in dieser Nacht mit dabei sind.

Es ist eine denkwürdige Nacht. Denn Danzig und Leipzig feiern zusammen. Mit Kerzen und Konzerten. Viele Leipziger haben sich vom "polnischen Bazillus" damals anstecken lassen. Auch Jahn. "Ich bin 1972 nach dem Abi durch Polen getrampt, da war der Geist schon zu spüren", erinnert er sich. Was er nicht wusste, erfährt er in dieser Nacht von Polens Botschafter Marek Prawda: Die Polen haben damals für die DDR-Dissidenten gebetet. "Wir wollten mit unserem Widerstand nicht allein bleiben", berichtet Prawda. Beeindruckt hört er, wie Jahn für die polnische Fahne ins Gefängnis ging. Und dass sich die Fahne wiedergefunden hat.

Sie lag in Jahns Stasi-Akte.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort