Analyse Das zähe Ringen um G 8

Düsseldorf · Die politische Unterstützung für das "Turbo-Abitur" schwindet. Dass die SPD öffentlich über einen Plan B nachdenkt, zeigt nur, wie groß die Zweifel mittlerweile sind. Die Rolle rückwärts wird immer wahrscheinlicher.

Das Fundament bröckelt. Begeistert war sie ohnehin nie, die Unterstützung in Nordrhein-Westfalen für das Abitur nach acht Jahren Gymnasium (G 8). Seit 2005 auf das Acht-Jahres-System umgestellt wurde, schreitet die Erosion munter voran. Ein größerer, vielleicht entscheidender Abbruch war diese Woche zu verzeichnen, als plötzlich die SPD-Fraktionsvize Eva-Maria Voigt-Küppers über einen Plan B sprach, den man brauche, "wenn G 8 scheitern sollte". Das war der Schlag, der das ganze Gebäude zittern ließ.

Zwar versuchte die Fraktionsführung hastig, den Schaden zu reparieren - eine Rolle rückwärts zum Abitur nach neun Jahren (G 9) stehe nicht zur Debatte. Doch der Eindruck bleibt: Die an der Basis brodelnde Debatte um das "Turbo-Abitur" hat nicht nur die Fraktion erreicht, sie bestimmt dort auch die Tagesordnung. Nur öffentlich sollte man G 8 noch nicht infrage stellen.

Dass allerdings der Streit Teil des Landtagswahlkampfs 2017 wird - davon kann man mittlerweile ausgehen. Denn die Nervosität wächst auch im Parlament mit jedem Jahr, da keine Ruhe einkehrt. Der lange Abschied von G 8 ist längst eingeleitet. Fünf Faktoren sind entscheidend dafür.

DasGrundproblem Einfach, aber brutal: Es gibt kein zwingendes pädagogisches Argument für G 8. Selbst der Philologenverband spricht nur davon, G 8 sei "pädagogisch verantwortungsvoll umsetzbar". Es gibt aber ein schlagendes Argument gegen G 9: das Chaos, das eine Rückkehr an den Schulen verursachen würde. Und das zu einem Zeitpunkt, da von den Büchern bis zu den Lehrplänen gerade alles auf G 8 umgerüstet ist.

Der Druck von unten Das massive Unbehagen der ersten Jahre, etwa bis 2010, als die noch von Rot-Grün eingeleitete G 8-Wende von Schwarz-Gelb miserabel umgesetzt wurde, spielte sich vor Ort ab. Erst Elterninitiativen haben den Frust gebündelt und in politische Bahnen gelenkt. Fast 100 000 Unterschriften legte im Frühjahr die Volksinitiative vor, die sich für eine Rückkehr zu G 9 einsetzt. Zunächst schien es, als verpuffe die Aktion: Der Landtag beriet pflichtgemäß über die Sache, aber Unterstützung gab es nur von den Piraten.

Die Volksinitiative scheint aber ein Wirkungstreffer mit Verzögerung gewesen zu sein - das zeigen die Beteuerungen der CDU und der SPD, man müsse die Eltern ernst nehmen. Was das konkret heißen könnte, nämlich G 8 zur Disposition zu stellen, das sagte vor Voigt-Küppers bloß niemand aus der politischen Prominenz offen. Jetzt hat die Diskussion richtig begonnen.

DerSog der Anderen Anlass für Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne), am runden Tisch über weitere Entlastungen zu beraten, war 2014 die Entscheidung Niedersachsens, zu G 9 zurückzukehren. Die neue rot-grüne Landesregierung löste damit ein Wahlversprechen ein. Auch Grün-Rot in Baden-Württemberg hat seit 2011 die erneute Wende eingeleitet: 44 Modellschulen durften zu G 9 zurückkehren; sie können sich vor Interessenten nicht retten. Das einstige Bildungs-Musterland Bayern experimentiert mit einer Verlängerung der Mittelstufe um ein Jahr. Hessen hat mit dem Regierungswechsel 2014 zu Schwarz-Grün Wahlfreiheit eingeführt; G 8 ist dadurch praktisch verschwunden.

Kulturwandel Wolfgang Clement, damals noch Sozialdemokrat, war es, der 2000 als Ministerpräsident ankündigte, in NRW den Weg zum Abi nach acht Jahren zu öffnen. In seiner Regierungserklärung begründete er das mit Begabtenförderung. G 8 passte freilich auch gut zu Clements Selbstverständnis als Polit-Manager: In derselben Rede fiel der Ausdruck "politischer Dax", und Clement sprach davon, "ob unsere Aktien hoch im Kurs stehen oder nicht". Schon seit Längerem galt damals das achtjährige Gymnasium als eine Art Vitaminspritze für den Standort Deutschland: Abiturienten im Ausland seien jünger und hätten ein Jahr Vorsprung auf dem Arbeitsmarkt. Und wem selbst das zu wolkig war, der hielt sich ans Geld: 1993 einigten sich die 16 Ministerpräsidenten auf eine Streichung des 13. Schuljahrs in ganz Deutschland, um 1,5 Milliarden Mark pro Jahr zu sparen.

Bildungspolitik ökonomisch zu begründen (mit "eingesparten" Jahren oder gar, bewahre, mit geringeren Ausgaben), hat man sich spätestens mit der Finanzkrise abgewöhnt. Das Ende der Wehrpflicht hat weiteren Druck aus dem Kessel genommen. Studienanfänger gelten heute weithin nicht mehr als zu alt, sondern als zu jung.

Spaltung des Bürgertums Die G 8-Debatte bringt seltsame Koalitionen und eigentlich widersinnige Kontroversen hervor. Das Gymnasium ist längst die neue Volksschule des Bürgertums - es nimmt zum Beispiel in NRW fast die Hälfte der Fünftklässler auf. Aber das Bürgertum ist gespalten. Wer heute den Philologenverband (entschiedener Befürworter von G 8) reden hört und morgen die Elterninitiativen (entschiedene Gegner von G 8), der bekommt zwar unterschiedliche Schlüsse präsentiert, aber dieselben Ziele: Stärkung des Gymnasiums, hoher Anspruch, Bildung statt bloß Ausbildung. Auch die G 9-Initiativen kommen aus dem Bürgertum; ihre Bildungsideale zeigen das deutlich, auch wenn ihre Protagonisten bisweilen im Ton unter die politische Gürtellinie rutschen.

Und so findet sich der eigentlich konservative Philologenverband plötzlich an der Seite der grünen Ministerin Löhrmann wieder, die partout nicht zurück zu G 9 will - erstens, weil das eine politische Niederlage ersten Ranges wäre; zweitens, weil damit ein wichtiges Argument für das grüne Lieblingskind Gesamtschule wegfiele: Warum an die Gesamtschule, wenn ich G 9 auch am Gymnasium haben kann?

Dann müsste man ja plötzlich eine Grundsatzdiskussion über Wert, Inhalte und Ziele gymnasialer Bildung führen. Das Gymnasium als Regelschule droht am eigenen Erfolg zu ersticken, deshalb wäre die Debatte zweifellos wünschenswert. Das geht allerdings auch ganz ohne neue Schulrevolution. Man müsste nur den Mut dazu haben.

(RP)
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