Kiew Das Leben nach der Maidan-Revolution
Kiew · Besuch in Kiew, einer Stadt, die vor dem Großmachtgehabe des Nachbarn Russland fröstelt – aber auch ganz konkret vor der Kälte.
Über dem Industriegebiet am Rande der ukrainischen Hauptstadt hängt schwer der Geruch eines Lagerfeuers. Auf dem trostlosen Platz liegt verstreut grellbuntes Plastikspielzeug. An Wäscheleinen flattern trocknende Kleidungsstücke im kalten Kiewer Wind. Unter dem Dach einer offenen Lagerhalle steht ein Hangar. Dort hausen sie, die Flüchtlinge aus der Region Donbass, dem bis vor Kurzem stark umkämpften Osten der Ukraine. In dem fensterlosen Gebäude reihen sich 100 Doppelstockbetten aneinander.
Nur wenige der 150 hierher Geflohenen wagen sich an diesem Morgen aus der kargen Behausung. Die Temperaturen sind in der Nacht dramatisch gefallen. Es sind die ersten Vorboten des nahenden Winters. Yelena Yurchenko (43) hat sich Kapuze und Mütze tief ins Gesicht gezogen. Wangen und Nase der zierlichen Frau sind von der Kälte gerötet, als sie ins Essenszelt tritt. Gerade erst sei sie aus Lugansk zurückgekommen, ihrer Heimatstadt, bericht die Sprachlehrerin traurig.
Vor ihrer Reise habe sie noch daran geglaubt, irgendwann einmal dauerhaft in ihre Heimat zurückkehren zu können. Doch der Besuch bei Mutter und Schwester, die immer noch in der lange umkämpften Stadt ausharren, hat jede Hoffnung zerschlagen. Ihre Verwandten seien auf Nahrungsmittellieferungen der Hilfsorganisationen angewiesen, sagt Yurchenko und erzählt von beschädigten Häusern, den Separatisten, die durch die Straßen patrouillierten, und wie ihr Sohn sie zur Flucht überreden musste. Jetzt harrt sie an diesem trostlosen Ort aus und weiß, dass die Zeit drängt. Solange das Wetter gut war, war das Flüchtlingslager am Stadtrand von Kiew für Yurchenko ein Ort der Hoffnung. Doch ein Leben bei Minustemperaturen von 20 Grad unter null ist hier kaum vorstellbar. Ein Job und eine Wohnung müssen her, und das schnell.
Mindestens 300.000 Menschen auf der Flucht
Ortswechsel: die Mykhailivska-Straße in der Innenstadt. Zwischen einem Erotik-Shop und einem Geschäft für Trachtenkleidung führt der Weg zu einem grünen Hinterhaus. Dort hat die Gruppe "Vostok SOS" ("Osten SOS") ihren Sitz. Etwa 30 Helfer sind an diesem Vormittag in der zum Büro umfunktionierten Wohnung. Es sind junge Menschen, die so auch in einem Café am Prenzlauer Berg sitzen könnten: digitale Bohème. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, den Flüchtlingen aus dem Osten zu helfen.
Nach Angaben der EU-Hilfsorganisation Echo sind 300.000 Menschen auf der Flucht, das sind allerdings nur die registrierten. Die tatsächliche Zahl dürfte viel höher liegen. Für jene aber, die aktiv nach Hilfe suchen, ist "Vostok SOS" eine mögliche Anlaufstelle. Viele der Aktivisten sind selbst Opfer des Konflikts mit Russland. Alexandra etwa stammt von der Krim. Zwar ist diese kampflos in russische Hände gefallen, doch die blasse junge Frau mit dem Kurzhaarschnitt spricht von Repressionen gegen Aktivisten. Ein Grund, weswegen sie geflohen sei und sich nun um das Schicksal der vom Krieg Betroffenen kümmere.
Die ersten vier Monate musste "Vostok SOS" ohne finanzielle Unterstützung auskommen. Inzwischen gehört es zu den anerkannten Projekten. Mit Mitteln der EU wird beispielsweise die Miete beglichen. 1100 Menschen sei in den vergangenen vier Monaten geholfen worden, sagt Natalia, eine ernst dreinblickende Kiewerin. Neben Telefonseelsorge, konkreter Fluchthilfe aus den umkämpften Gebieten und Sachspenden ging es in erster Linie um die Vermittlung von Wohnungen.
Auch Klitschko fürchtet den Winter
30.000 der heimatlosen Menschen haben sich laut Registrierungsstelle in die Hauptstadt geflüchtet. "Wir gehen realistisch von 70.000 Menschen aus", sagt der Kiewer Bürgermeister und Ex-Boxchampion Vitali Klitschko im grünen Prunksaal des Rathauses. "Unsere Kapazität ist nicht riesig, aber wir helfen, wo wir können." Auch er macht sich wegen des nahenden Winters Sorgen. "Was von mir abhängt, kann ich machen — aber wir benötigen dringend Gas, denn unsere Reserven reichen nicht aus", sagt er. Im Wahlkampf hatte Klitschko noch versprochen, dass die Wohnungen der Kiewer im Winter nicht kalt würden.
Lieber als über die Probleme der Stadt spricht der Bürgermeister von der Welle des Patriotismus, die das Land erfasst habe. Tatsächlich säumen vor allem im Bereich des Parlaments und des Regierungssitzes patriotische, teils martialische Plakate den Straßenrand. Darauf zu sehen sind bis an die Zähne bewaffnete Soldaten, die meist aber freundlich in die Kamera lächeln. Die Kehrseite ist im Erdgeschoss des Rathauses zu besichtigen: An einer Wand hängen die Fotos getöteter Freiwilliger. "Ewiger Ruhm den Helden" steht neben den Bildern der jungen Männer.
Es sind nicht die einzigen Toten, derer in diesen Tagen in Kiew gedacht wird. Wenige Meter vom Rathaus entfernt liegt der Maidan, das Zentrum der Proteste, die im Frühjahr zum Sturz der Regierung des Moskau-treuen Viktor Janukowitsch geführt hatten. Dort hängen die Bilder der "Himmlischen Hundert". Es sind die Porträts der toten Protestler. Ansonsten erinnert wenig auf dem Platz an die Euromaidan-Revolution. Spötter meinen, dass der Maidan von den Zeltstädten geräumt sei, sei das Einzige, was der neue Bürgermeister hinbekommen habe. Ansonsten falle Klitschkos Bilanz ernüchternd aus. Er selbst verweist vor allem auf den Wiederaufbau des "ruinierten Rathauses", den Austausch des korrupten Personals und das Anheuern von "Menschen mit Moral".
Enttäuscht von der EU
Vor schier unlösbaren Aufgaben steht auch der Mann, der in dem Regierungsgebäude an der Mykhaila Hrushevskoho-Straße, einem stalinistischen Bau, seinen Sitz hat. Die Last, die auf den Schultern von Arseni Jazenjuk liegt, muss tonnenschwer sein. "In sechs Monaten hatten wir eine Revolution, zwei Wahlen und einen Krieg", resümiert er. "Wir haben ein Sparpaket auf den Weg gebracht, Steuerreformen verabschiedet, die Reform des Energiesektors angestoßen. Wir haben viel getan."
Und doch dürften seine Tage als Premier gezählt sein. Am 26. Oktober wird in der Ukraine gewählt. Ob der EU-Freund Jazenjuk erneut Premier wird, ist unsicher. Zu groß ist der Frust der Ukrainer. Ein Sprecher der EU-Kommission in Kiew bringt es auf folgende Formel: "Die EU galt den Ukrainern lange als Paradies, ein Ort, an dem freies Reisen möglich ist und die Jobs besser bezahlt werden." Doch so langsam mischen sich in die positiven Stimmen — immerhin befürworten 62 Prozent einen EU-Beitritt — auch kritische. Es ist die Enttäuschung darüber, dass sich das Land mit dem Assoziierungsabkommen bewusst für die EU und gegen Russland entschieden hat, die positiven Effekte bislang aber ausbleiben.
Denn die Reformen, von denen Jazenjuk spricht, sind für die Bürger noch nicht spürbar. Im Gegenteil: Die Wirtschaft dürfte in diesem Jahr um knapp zehn Prozent schrumpfen. Die Sorge vor einem Gasboykott ist groß. Ein Visa-Abkommen, das eine freie Einreise in die EU gestattet, scheint in weiter Ferne. Das wichtigste Anti-Korruptionsgesetz scheiterte zuletzt im Parlament. Und dann ist da immer noch die Angst davor, dass Russland den Krieg im Osten weiter vorantreibt.
Bei der Krim, so sagen Regierungsvertreter hinter vorgehaltener Hand, habe man dem Drängen des Westens nach einer kampflosen Übergabe nachgegeben, weil es damals hieß, sollte Putin danach weitermachen, könne man neu reden. "Was würden Sie tun, wenn Spezialkräfte sich auf das Dach des Leipziger Flughafens abseilen würden?", fragt ein Regierungsvertreter resigniert. Denn Truppen, Rüstungstechnik oder auch nur militärische Ausbildung wird der Westen den Ukrainern nicht zur Verfügung stellen. Dem Land droht ein äußerst harter Winter.