Analyse Das hohe Gut der Freizeit

Düsseldorf · Immer mehr Gewerkschaften rücken flexiblere Arbeitszeiten in den Mittelpunkt von Tarifverhandlungen. Sie tragen damit dem Wunsch der Mitglieder nach mehr Selbstbestimmung Rechnung.

Bei ihrem jüngsten Tarifabschluss mit der Deutschen Bahn hat die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) eine interessante "Wünsch dir was"-Komponente eingebaut. Beschäftigte konnten selbst entscheiden, ob sie lieber mehr Geld, zusätzliche sechs Tage Urlaub oder eine Stunde Arbeitszeitverkürzung haben wollten. 71.000 Beschäftigte entschieden sich für sechs zusätzliche Tage Erholungsurlaub - nach EVG-Angaben mehr als jeder zweite Mitarbeiter.

Immer öfter entdecken die Gewerkschaften das Thema Arbeitszeit für sich. Beispielsweise die IG Metall. Die fordert in der anstehenden Tarifrunde, dass jeder Mitarbeiter für zwei Jahre seine Arbeitszeit auf 28 Stunden pro Woche absenken kann. Die freie Zeit soll auch an einem Stück genommen werden können. Zudem schwebt der Gewerkschaft ein Entgeltausgleich für bestimmte Gruppen vor: Beschäftigte mit belastenden Arbeitszeiten (Schichtarbeiter, Rufbereitschaften, Monteure, Wochenend- und Nachtarbeiter) und diejenigen, die für die Kindererziehung oder die Pflege eines Angehörigen Arbeitszeit reduzieren, sollen einen Lohnausgleich erhalten.

Doch woher kommt dieser neue Fokus der Arbeitnehmer in den Tarifverhandlungen? "Insbesondere in Westdeutschland hat es einen großen Wandel gegeben, was die Familienformen anbelangt", sagt Christina Klenner, Leiterin der Abteilung Genderforschung bei der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Früher habe es eine deutlich strengere Arbeitsteilung gegeben. Die Frauen haben den Haushalt geführt, die Kinder betreut und wurden im Gegenzug versorgt. Durch den immer größeren Anteil erwerbstätiger Frauen müssten die Familien ihren Arbeitsalltag heute anders organisieren: "Immer mehr Väter machen die Kinder morgens für die Schule oder Kita fertig, fahren sie dorthin, bringen sich bei Schulveranstaltungen ein. Zunehmend mehr Erwerbstätige pflegen ältere Angehörige." Diese Entwicklung lasse sich auch an den veränderten Arbeitszeiten ablesen: "Früher war das klassische Familienmodell, dass der Mann 40 bis 45 Stunden pro Woche arbeitete und die Frau für etwa 15 - also insgesamt 55 bis 60 Stunden Wochenarbeitszeit", so Klenner. Heute gebe es deutlich mehr Paarhaushalte, bei denen mehr als 60 Stunden anfallen. Das Statistische Bundesamt stellte erst kürzlich eine Studie zur "Qualität der Arbeit" vor und kam darin zu dem Schluss, dass im vergangenen Jahr 11,4 Prozent der Beschäftigten sogar mehr als 48 Stunden pro Woche arbeiteten.

Böckler-Forscherin Klenner und ihr Team befragten über einen Zeitraum von drei Jahren 126 Menschen zu ihren Lebensumständen. Eine häufige Aussage dabei war: "Mein Hobby ist meine Familie." Natürlich hätten auch diese Menschen gerne eine zusätzliche Freizeitbeschäftigung oder würden ein Ehrenamt übernehmen, sagt Klenner, dafür fehle ihnen allerdings oft die Zeit.

Dabei erleben wir grundsätzlich eine viel stärkere Freizeitorientierung der Gesellschaft - die allein schon aufgrund des gestiegenen Wohlstandsniveaus möglich ist. Bei der Shell-Jugendstudie 2015 erklärten 91 Prozent der befragten Jugendlichen, es sei ihnen wichtig, dass Familie und Kinder neben dem Beruf nicht zu kurz kämen.

"Die Freizeitorientierung wird allerdings erschwert durch eine gleichzeitige Entgrenzung der Arbeitszeit", sagt die Böckler-Expertin. Zum einen gebe es immer seltener ein festes Ende der Arbeitszeit. Zum anderen nehme der Anteil der Stellen mit atypischen Arbeitszeiten - etwa Schichtarbeit - zu. "Die Freizeit verliert aber an Wert, wenn sie in einer Zeit anfällt, in der alle anderen Menschen arbeiten", sagt Klenner.

Die Gewerkschaften begründen ihre Forderung nach einer Absenkung der Arbeitszeit nicht allein mit dem Wunsch nach mehr Zeit für Familie und Hobbys. Eine flexibler gestaltbare Arbeitszeit gewinnt auch aus gesundheitlichen Gründen an Bedeutung - schließlich müssen die Beschäftigten länger arbeiten, um abschlagsfrei in Rente gehen zu können. Und auch die Arbeitgeber haben angesichts des drohenden Fachkräftemangels ein Interesse daran, die Arbeitnehmer länger im Betrieb zu halten.

"Die Belastung durch atypische Arbeitszeiten können enorm sein. Viele Gewerkschaften haben reagiert und entsprechende Tarifverträge aufgelegt", sagt Klenner. Je nach Ausgestaltung könnten die Beschäftigten Arbeitszeit, Überstunden oder Geld auf einem Konto ansparen, mit dem dann Arbeitszeitverkürzungen oder Auszeiten zu einem späteren Zeitpunkt gegenfinanziert werden könnten. Die Bahn rechnet nach eigenen Angaben damit, dass viele der Beschäftigten, die sich für die sechs zusätzlichen Urlaubstage entschieden haben, diese auf ihr Arbeitszeitkonto packen und für später horten.

Natürlich muss jeder Ausfall von Arbeitszeit von den Kollegen, durch Vertretungen oder eine veränderte Arbeitsorganisation aufgefangen werden. "Eine solche Organisation ist ein hochkomplexes Problem, das vor allem die Führungskräfte und das Personalmanagement fordert", sagt Klenner.

Mehr Flexibilität ist im Übrigen keine reine Absenkungsfrage: Bei einer Befragung des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall gaben 77 Prozent der Beschäftigten an, sie könnten sich vorstellen, länger als die gesetzlich erlaubten zehn Stunden am Stück zu arbeiten. Allerdings machten sie auch hier eine Einschränkung - 80,5 Prozent davon fügten hinzu: "Aber nur, wenn ich dies selbst will."

(maxi)
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