Analyse Das giftige Erbe der Sowjetunion

Moskau · Vor 25 Jahren ging die UdSSR unter. Heute blüht in Russland nicht nur die Nostalgie, sondern auch die Selbstdarstellung als Opfer. Das Gefühl der Bedrohung dient als Rechtfertigung für außenpolitische Übergriffe.

Der Westen war beunruhigt. Er fürchtete die Streuwirkung der imperialen Splitter, sollte das sowjetische Riesenreich auseinanderbrechen. Anfang August 1991 reiste der damalige US-Präsident George H.W. Bush nach Kiew, in die ukrainische Sowjetrepublik. Bush wollte die Abgeordneten der Rada, des Parlaments der Ukraine, überreden, den neuen Vertrag nicht abzulehnen. Denn noch im August wollte Moskau ein Abkommen vorlegen, das den sowjetischen Teilrepubliken größere Selbstständigkeit einräumte. Bushs Worte klangen wie eine Beschwörung.

Zwei Wochen später putschen Hardliner der Kommunistischen Partei (KPdSU) gegen den sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow. Mit dem Vertrag hatte er die UdSSR retten wollen. Der Coup schlug fehl und auch der Versuch, die Union zu bewahren. Die Putschisten aus der KPdSU besiegelten auch das Schicksal der Staatspartei. Die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) gehörte faktisch der Vergangenheit an.

Eine Republik nach der anderen erklärte sich für unabhängig. Irritierend: Niemand aus Staat und Partei hielt es für nötig, das System zu verteidigen. Auch hielt keine einzige Republik mehr zur Union.

Als am 25. Dezember das rote Banner über dem Kreml eingeholt wurde und Gorbatschow den Amtssitz verließ, war er längst ein Herrscher ohne Land. Anfang Dezember hatten die slawischen Republiken Weißrussland, Ukraine und Russland den Vertrag zur Auflösung der Union vereinbart. Das russische Parlament stimmte dem mit großer Mehrheit zu, auch die kommunistischen Abgeordneten, die den Reformkräften heute Verrat vorwerfen. Russland ging früh auf Distanz zur Union. In der wirtschaftlichen Notlage dachten die Menschen vor allem daran, wie sie die Familien ernähren konnten. Jede Republik galt als Kostgänger. Scheiden tat nicht weh.

Doch in der Nostalgie der Wiederbelebung alles Sowjetischen verschwinden die Fakten. Wenn Wladimir Putin vom Ende der Sowjetunion als "größter geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts" spricht, macht er den Westen für den Niedergang der UdSSR verantwortlich. Dahinter verbirgt sich die fehlende Bereitschaft, für eigenes Handeln einzustehen. Das ist sowjetisch, hat jedoch noch tiefere Wurzeln: Russland macht sich zum Opfer, ein Opfer kann jedoch nicht schuldig sein, so die Logik. Es hat das Recht, sich aus der Lage zu befreien, was immer es dabei anrichten mag.

Damit begründet Moskau die militärischen Übergriffe der vergangenen Jahre - ob im Krieg gegen Georgien, bei der Annexion der Krim, im Donbass oder auch in Syrien. Die Missachtung von Wahrheit, die Haltung, alle Fakten dienten nur einem verdeckten Ziel, waren schon Teil sowjetischer Politik. Auch die "neurotische Weltsicht" von Unsicherheit und Bedrohung gehöre dazu, meinte der US-Diplomat und Russlandkenner George Kennan schon 1946. Das Gefühl der Unsicherheit werde als Rechtfertigung genutzt, um militärische und polizeiliche Macht auszubauen.

Nicht zuletzt ist dieses Vorgehen das Vehikel, mit dem der russische Nationalismus seit Jahrhunderten vorrückt und dabei das Verständnis von Angriff und Verteidigung verwischt. Das liegt auch heute vor.

Eine Wiedererrichtung der UdSSR als geopolitischer Einheit droht jedoch nicht. Finanzielle und militärische Mittel fehlen, um das alte Reich an die Kandare zu nehmen. Der Einsatz des altersschwachen Flugzeugträgers "Admiral Kusnezow" gab eine Kostprobe - auf dem Weg nach Syrien unterhielt er spöttelnde Kommentatoren. Auch das Projekt der Eurasischen Union - als neo-imperiale Neuauflage russischen Reichsstrebens - kommt nicht voran.

Ist Wladimir Putins Alleinherrschaft auch ein sowjetisches Erbstück? Russland wird seit je autokratisch regiert. Nach der Monarchie und der Diktatur Stalins übernahm ein Generalsekretär die Parteiführung, das Politbüro als kollektive Leitung gewann wieder an Bedeutung. Putin muss unterdessen auf niemanden hören, keiner kontrolliert ihn. Auch ideologisch hat er freie Hand: Er nimmt, was sich bietet. Insofern entpuppt er sich als ein Herrscher postmodernen Zuschnitts. Was glänzt und hilft, ist willkommen. Sowjetischer Supermachtstatus und Sieg im Zweiten Weltkrieg, Zarenpracht und Orthodoxie passen widerspruchslos unter einen Hut.

Beliebiges miteinander zu verknüpfen, hat in Russland Tradition. Die Sowjetunion setzte das Erbe fort. Widersprüche schließen sich nicht aus: Gestern noch schwang sich die Sowjetunion auf, Proletariern das atheistische Paradies zu verheißen, und sah sich als Speerspitze universalen Fortschritts. Heute verlangt Moskau inbrünstig, als Hüter des Traditionalismus und Hort konservativer Werte anerkannt zu werden. Aus der Annahme, eine zivilisatorische Vorhut zu sein, zieht Moskau auch den Glauben, nie zu fehlen und immer im Recht zu sein. Damals wie heute.

Bevor die UdSSR zusammenfiel, hatte sie sich in der Rüstung übernommen. Als Mitte der 80er Jahre der Ölpreis sank, war die Krise nicht mehr aufzuhalten. Die Abhängigkeit vom Devisenbringer Öl war Hauptgrund für den imperialen Kollaps. Russland will es nicht wahrhaben. Debatten darüber finden jedoch nicht statt, obwohl das Land heute vor dem gleichen Problem steht. Wissenschaftliche Expertise zählt nicht. Sonst müsste sich Moskau von alten Gepflogenheiten trennen: keine Fakten mehr leugnen und die Suche nach äußeren Feinden einstellen.

Stattdessen hüllt es die Welt weiter in Mythen und übertüncht die dramatische Historie von Blut und Brüchen mit Erfolgsgeschichten. Auch die Nostalgie für die UdSSR wird gefördert. 56 Prozent bedauern ihr Ende heute - bevor Putin 2012 erneut ins Amt kam, war der Wert schon unter 50 Prozent gefallen.

(RP)
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