Calais Das Flüchtlingsdrama von Calais

Calais · 1500 Migranten aus dem Sudan, Afghanistan und Syrien wollen weiter nach England, sitzen aber in Frankreich fest. Sie hausen in der französischen Hafenstadt unter freiem Himmel, um irgendwann, versteckt im Lkw, die Überfahrt zu schaffen.

Punkt 18 Uhr erklingt das Glockenspiel im Backsteinturm des Rathauses von Calais - für die rund 1500 Flüchtlinge, die in der nordfranzösischen Stadt hausen, das ersehnte Zeichen, dass die Zeit zum Essen gekommen ist. Denn um 18 Uhr beginnt die Essenausgabe vor einer Lagerhalle am Hafenbecken nur 100 Meter vom Rathaus entfernt. Zu Hunderten sitzen oder stehen die Migranten aus dem Sudan, Syrien oder Afghanistan geduldig in der Schlange, um von Freiwilligen zweier Hilfsorganisationen einen Teller mit Reis, ein Stück Baguette und eine Nektarine zu bekommen.

Einer von ihnen ist Josep. Der 23-Jährige aus dem bitterarmen afrikanischen Zwergstaat Eritrea hofft jeden Abend, dass es seine letzte Mahlzeit in Calais ist. Denn der junge Mann will weiter nach England. Mehr als 50 Mal hat er es in den vergangenen zwei Monaten versucht. "Wir warten auf einem Parkplatz in der Nähe des Hafens auf die Lkw aus Großbritannien", berichtet er. Tausende Lkw kommen jeden Tag, um von Calais aus mit der Fähre oder im Pendelzug den Ärmelkanal zu durchqueren - für die Flüchtlinge die Chance, die Reise im Laderaum versteckt mitzumachen. Vor Risiken schrecken sie nicht zurück. "Es gibt sogar welche, die sich auf der Unterseite der Lkw verstecken", berichtet David Lacour von der örtlichen Hilfsorganisation Solid'R. Andere springen auf die fahrenden Trucks, um mitgenommen zu werden.

Josep ist bisher jedes Mal am scharf bewachten Hafen von der Polizei wieder aus dem Lkw geholt worden, will es aber weiter versuchen. Denn England ist für ihn das Paradies - mit Arbeit und einem Dach über dem Kopf. "Meine Freunde sagen, dass es das beste Land ist." Den Traum von England hätten die Flüchtlinge schon, wenn sie ihre Heimat verließen, berichtet Lacour. "Und die Schlepperbanden verkaufen diesen Traum auch noch."

Eine wahre Mafia hat sich rund um Calais breit gemacht, um den Migranten bei der Flucht zu helfen. Bis zu 3000 Euro kostet es, die Hilfe von Schleppern in Anspruch zu nehmen, weiß Jacky Verhaegen von Secours Catholique, der französischen Schwesterorganisation der Caritas. Und es gibt durchaus Flüchtlinge, die den Preis zahlen können. "Ich habe Ärzte und Unternehmenschefs gesehen, die aus Syrien gekommen sind, und dort alles verkauft haben", sagt der Sozialarbeiter, der den Flüchtlingen schon seit mehr als zehn Jahren hilft. Am Stadtrand von Calais leitet er ein Zentrum, wo sich die Migranten tagsüber aufhalten können. Denn viele von ihnen schlendern ziellos durch die Straßen und prägen damit das Stadtbild von Calais, das mit gut 17 Prozent eine der höchsten Arbeitslosenquoten Frankreichs hat. "Überall in der Stadt sieht man Migranten. Das wird problematisch", warnt Lacour. Seit knapp einem Jahr gibt es die rechtsextreme Gruppierung "Retten wir Calais", die am Sonntag rund 200 Demonstranten gegen die Migranten auf die Straße brachte. "Wir leben in Krisenzeiten. Die Leute werden radikaler", kommentiert Lacour die bedrohliche Entwicklung.

Ein kleiner Teil der Flüchtlinge will trotz der angespannten Atmosphäre in Frankreich bleiben. Zum Beispiel Ahmed: der 30-Jährige stammt aus der sudanesischen Provinz Süd-Kordofan, wo ein von der Weltöffentlichkeit vergessener Bürgerkrieg tobt. "In unserem Land gibt es keine Sicherheit", sagt er. Deshalb hat er sich allein auf den gefährlichen Weg gemacht - über Libyen und das Mittelmeer bis nach Lampedusa und von dort aus gleich weiter nach Calais, um von nach England zu kommen. Doch zur Insel zu kommen versucht hat Ahmed nur einmal. "Ich habe die Polizei gesehen und dachte mir, dass das einfach nicht klappen kann", sagt er in einfachem Englisch. Nun will der Sudanese, der seinen dicken gelben Daunen-Anorak nie auszieht, in Frankreich bleiben.

Seit sechs Wochen ist er bereits in Calais und wird auch noch den Jahreswechsel dort erleben, denn ein Asylantrag läuft sechs bis 18 Monate. "In Calais kommt rund die Hälfte der Anträge durch", berichtet Verhaegen, der seinen Schützlingen auch bei den Anträgen hilft. Die meisten haben ohnehin ein Anrecht auf Asyl. Doch bis dahin müssen sie wie Ahmed im Freien leben, denn für die Flüchtlinge in Calais gibt es keine Unterkunft. Sie hausen rund um den Hafen in Zelten und unter Planen, die sie von den Hilfsorganisationen bekommen haben.

Nur sechs Duschen stehen für die bis zu 1500 Migranten zur Verfügung. "Wir stehen vor einer humanitären Katastrophe", warnt Sozialarbeiter Lacour. Denn die Zahl der Flüchtlinge, die in Calais leben, hat sich in den vergangenen Monaten verdoppelt. Die Lager in Italien sind voll, deshalb kommen immer mehr Menschen nach Calais. "Wir haben inzwischen auch viele Frauen und Kinder hier."

Rund 50 Frauen und fünf Kinder sind im "Centre Victor Hugo" untergekommen, einer kleinen Baracke, die Lacours Organisation Solid'R seit drei Monaten außerhalb der Stadt betreibt. Vor dem grauen Fertigbau mit den gelben Fenstern flattert die Wäsche im Wind, im Hof steht ein rotes Plastikauto. Doch auch, wenn die Unterkunft im Gegensatz zu den wilden Lagern am Hafen fast schon komfortabel ist, wollen die meisten Frauen weiter nach England. Zuletzt hat es eine Mutter Anfang Juli geschafft - mit einem Zweijährigen.

(RP)
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