Kommentar Das Bild der Krise

Es ist das Bild zur größten humanitären Tragödie in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Ein kleiner syrischer Junge liegt an einem Strand in der Türkei. Tot. Sein Gesicht im Sand. Das rote T-Shirt durchnässt. Aylan Kurdi heißt der Junge. Er ist drei Jahre alt. Sein Leben endete auf der Suche nach einem besseren Leben. Als ich das Bild sah, musste ich an Jannis denken, meinen Sohn. Er ist fast so alt wie Aylan. Wenn Jannis in seinem Gitterbett schläft, legt er auch immer die Arme nach hinten.

Morgens wacht er wieder auf. Aylan nicht mehr. Das Foto zerreißt einem das Herz. Und doch ist es die Realität an den Grenzen Europas. Es ist das Dokument eines grandiosen menschlichen Versagens. Der Terror und der Hass in Syrien, die Abschottung und die nationalen Egoismen in Europa. Wir alle haben Aylan auf dem Gewissen. Wir haben in der Redaktion lange diskutiert, ob wir Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, dieses Bild zumuten können. Wir schreiben, was ist. Aber wir zeigen nicht jedes Bild.

In diesem Fall haben wir anders entschieden. Das Sterben im Mittelmeer muss aufhören. Wir können Aylan nicht wieder zum Leben erwecken. Aber vielleicht kann dieses Bild Leben retten. Weil es so weh tut. Weil es die Verantwortlichen und bestenfalls auch jene, die Fremdenhass schüren, an den Grundwert einer zivilisierten Gesellschaft erinnert: den Schutz des Lebens. Michael Bröcker, Chefredakteur

(RP)
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