Italien Chaos all'italiana

Rom · Immer mehr Italiener glauben, ihr Schicksal endgültig aus der Hand gegeben zu haben - an Finanzprobleme, die EU oder heimische Politiker.

Grüne Zucchini, saftige rote Tomaten, Auberginen, Fenchel, Artischocken ragen aus den Auslagen. Wer morgens auf dem Markt an der Piazza San Giovanni di Dio in Rom einkaufen geht, erlebt ein lebendiges, üppiges Italien. Die Verkäufer preisen ihre Ware an, ältere Frauen mit ihren Einkaufswägelchen bahnen sich fluchend ihren Weg durch das Gedränge. Nichts deutet auf drohende Untergangsszenarien hin, wie sie nur ein paar Kilometer weiter stadteinwärts im Palazzo des Staatspräsidenten auf dem Quirinalshügel verhandelt werden.

Über einem Obststand wehen bunte, etwas mitgenommene Girlanden im Wind und ein paar grün-weiß-rote Nationalflaggen. Sie sind zerfetzt, vergilbt, und wer will, kann in ihnen eine Metapher für den Zustand Italiens im Frühsommer 2018 sehen. Das Land bewegt sich irgendwo zwischen Alltag und einer dramatischen Gratwanderung mit ungewissem Ausgang.

Die beiden Schwestern Nadia und Antonella Pressante verkaufen Käse- und Wurstwaren, feiner Pecorino und Parmesan stapeln sich in der Auslage, duftende Parmaschinken hängen von der Decke herab. Der Andrang an diesem Morgen ist groß, das Thema in der Warteschlange sind die politischen Ereignisse der vergangenen Tage. "Kennst Du - wie heißt er noch mal - Cottarelli?", fragt eine Frau ihre Standnachbarin. Auch die hat vom designierten italienischen Premierminister Carlo Cottarelli noch nie etwas gehört, der nach nur zwei Tagen schon wieder abtreten durfte. Schnell ist sich ein Großteil der Warteschlange einig, dass in Italien mal wieder höhere Mächte am Werk sind. "Bei uns regiert doch auch schon längst die Merkel", ruft Nadia Pressante, 56, über die Ladentheke und kassiert einen Kunden ab. Zustimmendes Gemurmel ist aus der Warteschlange zu vernehmen.

Italien fühlt sich fremdgesteuert. Auf diesen Nenner kann man den Effekt der aktuellen politischen Ereignisse und ein seit Jahren anhaltendes Gefühl der Machtlosigkeit wohl bringen. Der Eindruck, die Fäden endgültig aus der Hand gegeben zu haben, ist vielerorts greifbar.

"Ich schicke meinen Wahlschein zurück", sagt Mauro Burgo empört und schiebt sich seine blau gerahmte Brille ins graue Haar. "Ich bin angeekelt!", ruft er. Burgo sortiert gerade grüne Bohnen, Salatköpfe und Brokkoli, die Hände des 58-jährigen Verkäufers sind runzelig und mit Erde verschmiert. Er sei in den 70er Jahren groß geworden, "da war auch nicht alles perfekt". Aber so etwas wie jetzt habe er noch nicht erlebt.

Burgo zählt zu den 32 Prozent, die bei der Wahl der Fünf-Sterne-Bewegung des Komikers Beppe Grillo am 4. März ihre Stimme gegeben haben - aus Protest gegen den scheinbaren Stillstand und die angebliche "Inkompetenz der politischen Klasse". Die Machtübernahme zusammen mit der Lega stand kurz bevor. Und wieder habe das herrschende System alle Register gezogen, um das eigene Überleben zu sichern. "Basta", sagt Burgo, "seit 50 Jahren werden wir in Italien verarscht, ich habe die Nase voll." Wählen werde er in diesem Leben nicht mehr, Hand aufs Herz.

"Komm schon, ich kenne dich doch. Du geht's wieder hin", sagt Fabrizio Boccelli, ein Kumpel des Verkäufers, der sich am Stand für ein Schwätzchen eingefunden hat. Boccelli hat die nationalistische Lega gewählt. Deren hemdsärmelig auftretender Parteichef Salvini, der massenhaft Flüchtlinge abschieben will, kommt inzwischen auch in Rom und im Süden des Landes sehr gut an. Wären dieser Tage Wahlen, käme die Lega laut Umfragen auf 25 Prozent der Stimmen. "Sie haben Banken gerettet und tun so, als lägen ihnen die Ersparnisse der Italiener am Herzen. Sie haben jede Glaubwürdigkeit verloren", sagt Boccelli über die bisher regierenden Sozialdemokraten, denen auch der Staatschef nahesteht.

Wohl mehr als die Hälfte der Italiener, die sich überhaupt noch für Politik interessieren, denkt inzwischen ähnlich. Dabei gibt es nach Jahren der Rezession durchaus auch wieder positive Signale. Die Wirtschaft wächst, wenn auch langsam, die Arbeitslosigkeit sinkt. Ein echter Wandel - wie ihn sich die meisten wünschen - ist allerdings nicht spürbar. Fragt man nach den alarmierenden Anzeichen, die die Finanzmärkte in diesen Tagen mit steigenden Zinsen für die enorm hohe italienische Staatsverschuldung aussenden, bekommt man von Boccelli und Burgo ein vielsagendes Statement. Der Spread? "Ich glaube nicht an ihn", sagt Burgo. Wichtiger sei es, die Mehrwertsteuer endlich zu senken.

Die Wirklichkeit des Kapitalismus und seine Auswirkungen sind in Italien zur Glaubensfrage geworden. Da gibt es die Verantwortlichen in Brüssel, Berlin, Paris oder auch Staatspräsident Mattarella, die vor einem weiteren Anstieg des italienischen Staatsdefizits warnen, weil das Land bei einem Vertrauensverlust der Investoren die Zinsen für die Schulden in Höhe von 2300 Milliarden Euro nicht mehr bezahlen könnte. Die hängen, ob man will oder nicht, von den Einschätzungen des Marktes, also von Investoren und Ratingagenturen ab. Für viele Normalbürger klingen diese Zusammenhänge wie Chinesisch. Es ist einfacher, diese Logik zu ignorieren. Konkrete Befürchtungen über abstrakte Dinge wie Staatsschulden haben im Getöse der politischen Marktschreier immer weniger eine Chance, Gehör zu finden. Im Gegenzug wird das Szenario einer internationalen Allianz auf Kosten der italienischen Souveränität weiter gesponnen. Obwohl Italien Anfang der 90er Jahre sehenden Auges und mit dem Willen zu Strukturreformen der Eurozone beitrat.

"Ich weiß, dass ihr stinksauer seid", sagte Luigi Di Maio, Parteichef der Fünf-Sterne-Bewegung, in einem an die Wähler gerichteten Video am Montag. "Verurteilte, halbe Mafiosi, Korrupte und Männer, die zu Prostituierten gehen, können Minister werden, aber wehe man kritisiert den Euro", schimpfte Di Maio. Solche Worte wirken in Italien, das politische Personal der vergangenen Jahre sorgte mehr als einmal für Skandale, die oft folgenlos blieben.

Auch ein unkonventioneller politischer Beobachter wie der Journalist Marco Travaglio hält die Verhinderung eines eurokritischen Ministers für einen schweren Fehler: "Die schlimmsten Zündler sind diejenigen, die denken, eigentlich Feuerwehrmänner zu sein", sagt der Chefredakteur der Zeitung "Il Fatto Quotidiano". Man müsse Fünf-Sterne-Bewegung und Lega endlich auf die Probe stellen, anstatt sie unbewusst immer stärker werden zu lassen. Travaglio ist sich sicher, eine Neuwahl im Herbst wäre zu einem Referendum über den Euro und den Staatspräsidenten geworden.

Der sieht sich in den sozialen Netzwerken bereits mit Beschimpfungen und Morddrohungen konfrontiert. Der 76 Jahre alte Mattarella ist das Symbol, an dem sich in Italien dieser Tage die Geister scheiden. Die Einen halten ihn für einen Erfüllungsgehilfen der Finanzmärkte und finanziellen Großmächte Europas. Für eine Minderheit ist er der verantwortungsvolle Garant für die Bezahlbarkeit der Staatsschulden.

Die neue Regierung ist erst ein paar Stunden vereidigt, da ist der Wahlkampf schon längst wieder voll im Gange. Gespielt wird mit den Emotionen eines Volkes. Und das Volk spielt mit. Gerade hatten sich die Fünf-Sterne-Bewegung und die rechtspopulistische Lega nach drei Monaten politischem Psychodrama auf eine Regierung geeinigt, da sprach er in der Nacht zu gestern schon wieder auf der Piazza: Matteo Salvini, der neue Innenminister und der wahre Gewinner dieser Koalition der ungleichen Zwillinge:

"Italien ist das schönste Land der Welt", ruft er in der norditalienischen Stadt Sondrio. Stolz sollen die Italiener wieder auf ihr Land sein, so Salvini, weg mit den Migranten, weg mit den "Zigeunern". Die Italiener dürften keine "Sklaven" von Brüssel, Berlin und Paris mehr sein. Das ist die Rhetorik, mit der der 45-Jährige in den letzten Monaten immer beliebter wurde und die er nun im Innenministerium als Scharfmacher gegen Migranten perfektionieren kann. Doch nach der Vereidigung der Regierung gestern atmeten nicht wenige auf - in Italien und auch im Rest Europas. Was waren das für Wochen. Ein ganzes Land am Rande des Nervenzusammenbruchs. Chaos all'italiana.

(RP)
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