Bundeswehr schoss auf Protestler

Deutsche Soldaten haben im nordafghanischen Talokan gezielt auf wütende Demonstranten geschossen, dabei vier Zivilisten verletzt und vermutlich einen getötet. Die Bundeswehr räumt die Details erst spät ein und spricht von Notwehr. Die deutsche Opposition verlangt rasche Aufklärung.

Berlin/Kabul Zunächst war nur von Warnschüssen die Rede, die deutsche Soldaten am Mittwochmorgen in der Stadt Talokan in Nordafghanistan auf wütende Demonstranten abgefeuert hätten. Doch gestern musste die Bundeswehr ihre ursprüngliche Darstellung korrigieren: Die Soldaten hätten auch gezielt auf gewalttätige Angreifer geschossen, um sich selbst zu verteidigen. Einer der Demonstranten könne im "Hals-Kopf-Bereich" getroffen worden sein – ein Hinweis darauf, dass die Schüsse in diesem Fall wahrscheinlich tödlich waren.

Was war passiert in Talokan, einer 200 000-Einwohner-Stadt in der Provinz Tachar, die als eher friedlich gilt? US-Soldaten hatten dort unlängst bei einer nächtlichen Anti-Terror-Aktion vier Afghanen getötet, darunter zwei Frauen. Nach der Trauerfeier für die Opfer am Mittwoch zog eine wütende Menge von 3000 Demonstranten zu dem kleinen Camp deutscher Soldaten in Talokan. Aus der Menge sollen Brandbomben in die Richtung der 40 deutschen Soldaten geflogen sein.

Die afghanische Schutztruppe, die das Camp sicherte, und auch die Deutschen sollen zunächst Warnschüsse abgefeuert haben, um die Menge auseinanderzutreiben. Doch alle Warnungen, auch durch Handzeichen, seien von der Menge ignoriert worden. Die Soldaten hätten sich in einer "Selbstverteidigungslage" befunden, so die Bundeswehr. Sie hätten daher "gezielt Schüsse auf weiterhin gewalttätige Demonstranten", vor allem auf den "Beinbereich" abgegeben. In "drei, gegebenenfalls vier Fällen" hätten sie auch auf Rumpf, Arme oder Hände der Angreifer gefeuert. "In einem Fall ist nach derzeitiger Erkenntnis ein Treffer im Hals-Kopf-Bereich nicht auszuschließen", hieß es im Bundeswehr-Deutsch. Auch drei deutsche Soldaten und fünf afghanische Wachleute seien verletzt worden.

Die afghanischen Behörden und die Uno-Truppe in Afghanistan sprachen von insgesamt 14 Todesopfern bei den Protesten, die sich den ganzen Tag über in Talokan fortsetzten. Mehr als 80 Menschen seien verletzt worden. Eine genaue Untersuchung, wer von den Deutschen getötet wurde, wird vermutlich kaum mehr möglich sein: Nach den Regeln des Koran werden die Leichen von Muslimen innerhalb von 24 Stunden nach deren Tod beerdigt; Obduktionen sind unüblich und auch kaum mehr möglich.

Für die Soldaten hat der Vorfall ein Nachspiel. Sie müssen mit Ermittlungen rechnen. Mit der Generalbundesanwaltschaft nahm die Bundeswehr bereits Kontakt auf. Der Vorfall werde durch die Nato-Truppe Isaf und eine vom afghanischen Präsidenten Hamid Karsai eingesetzte Kommission untersucht, erklärte die Bundeswehr.

Allein die Anreise von hochrangigen afghanischen Armeeangehörigen nach Talokan zeigt, wie ernst der Vorfall auch in Kabul genommen wird. Der für die Nordregion des Landes zuständige Polizeichef, der im ganzen Land bekannte General Daud, reiste eigens an, um für eine Beruhigung der Lage zu sorgen. Ein weiterer General der afghanischen Armee bemüht sich um ein neues Konzept, um das Lager der Deutschen besser zu schützen.

Karsai kritisierte vor allem die nächtliche Aktion der US-Streitkräfte in Talokan, die Auslöser der Eskalationen gewesen war. Nach Angaben der Nato handelte es sich bei den vier bei dem Anti-Terror-Einsatz getöteten Afghanen um Aufständische, die der Islamischen Bewegung Usbekistans (IMU) angehörten, die Verbindungen zur Terrororganisation al Qaida unterhält. Karsai dagegen behauptete, es habe sich um vier unschuldige Familienmitglieder gehandelt.

Grünen-Außenpolitiker Hans-Christian Ströbele kritisierte das Eingeständnis der Bundeswehr als "überfällig und verspätet". Die Bundeswehr müsse dem Bundestag und der Bundesanwaltschaft "ohne weitere Ausflüchte exakt schildern, ob und gegebenenfalls warum die deutschen Soldaten in Notwehr gehandelt haben". Er erwarte Antworten bis Mittwoch.

Die Bundeswehr betreibt in der Kleinstadt Talokan eine Außenstelle des 70 Kilometer entfernten Feldlagers Kundus, wo über 1100 deutsche Soldaten in einem stark befestigten Camp außerhalb der Stadt stationiert sind. Der Posten im normalerweise friedlichen Talokan liegt dagegen mitten in der Stadt und ist entsprechend angreifbar.

(RP)
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