Analyse Verfassungsgericht macht Sozialpolitik

Berlin · Die Verfassungsrichter in Karlsruhe haben schon einige bahnbrechende und teure Urteile zur Sozialpolitik gefällt. Daher bekommt die Ankündigung des Sozialverbandes, für eine gute Pflege zu klagen, so viel Aufmerksamkeit.

Eine juristische Doktorarbeit brachte die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Ulrike Mascher, auf die Idee, eine gute Pflege für alle Menschen vor dem Verfassungsgericht einzuklagen. Susanne Moritz aus Regensburg hatte sich in ihrer Dissertation mit den staatlichen Schutzpflichten gegenüber pflegebedürftigen Menschen beschäftigt. Darin kommt sie zu dem Befund, dass, sofern die Regierung weiterhin untätig bleibe, eine Verbesserung der Zustände in den Pflegeheimen nicht zu erwarten sei. "Eine aussichtsreiche Möglichkeit, den Pflegemissständen Abhilfe zu schaffen, stellt ein Vorgehen vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das gesetzgeberische Unterlassen dar", schreibt sie.

Der VdK plant, dass noch in der ersten Jahreshälfte rund zehn ältere Menschen in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde einreichen. Für öffentlichen Wirbel hat das Vorhaben schon gesorgt - und damit ist ein Teil des Anliegens des Sozialverbandes erfüllt, der auf die teils dramatischen Zustände in der Pflege hinweisen will. "Das ist ein wichtiger Aspekt", sagte Mascher.

Der Klage wird in der Fachwelt wenig Aussicht auf Erfolg beschieden. Die Verfassungsbeschwerde ist ein Rechtsbehelf der besonderen Art. In Artikel 93 Absatz 1 Satz 4a des Grundgesetzes heißt es, das Bundesverfassungsgericht entscheide "über Verfassungsbeschwerden, die von jedermann mit der Behauptung erhoben werden können, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte verletzt worden zu sein."

Schon hier wird klar, dass die Grundrechte unserer Verfassung (zum Beispiel der Schutz der Menschenwürde) Abwehrrechte des Einzelnen gegen gesetzgeberische, exekutive und rechtsprechende Gewalt sind. Aber schon früh hat das 1951 gegründete Bundesverfassungsgericht das Grundrechte-Verständnis erweitert. Danach entfalten die Grundrechte mittelbar auch Bindewirkung ("Drittwirkung") im Rechtsverkehr zwischen Privaten.

Der neue Vorstoß, nicht etwa gegen eine staatliche "Maßnahme", sondern im Gegenteil, nämlich ein staatliches Unterlassen (hier: beim Schutz pflegebedürftiger Menschen) in Karlsruhe einklagen zu wollen, führt auf einen juristisch "langwierigen und steinigen" Weg, wie auch Susanne Moritz in ihrer Dissertation einräumt. Vielleicht ist der Weg sogar versperrt. Dafür spricht eine Entscheidung des höchsten Gerichts von 2013: Damals nahm das Bundesverfassungsgericht drei Verfassungsbeschwerden gegen das geltende Waffenrecht gar nicht erst zur Entscheidung an. Auch in diesen Fällen hatten die Beschwerdeführer "gesetzgeberisches Unterlassen" beim besseren Schutz gegen Waffenmissbrauch beklagt. Karlsruhe räumt dem Gesetzgeber bei der Erfüllung seiner Schutzpflicht einen weiten Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum ein. Eine Verletzung könne von Karlsruhe deshalb nur dann festgestellt werden, wenn die öffentliche Gewalt Schutzvorkehrungen überhaupt nicht getroffen habe, die ergriffenen Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich seien. Letzteres wird man der staatlichen Pflegepolitik schwerlich nachsagen können.

Der Darmstädter Sozialrechtsexperte Jürgen Borchert erklärte, er halte die geplante Verfassungsbeschwerde zur Pflege für ein "totgeborenes Kind". Auch die Pflegebranche selbst sieht die Erfolgsaussichten als gering an. "Die Klage hilft uns aber, Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken, und damit haben wir schon etwas erreicht", sagte der Vorsitzende des Deutschen Pflegerats, Andreas Westerfellhaus.

Der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann, sieht keine inhaltliche Notwendigkeit für eine solche Klage. "Sowohl in den Familien als auch in den professionellen Einrichtungen wird sich mit viel menschlicher und fachlicher Kompetenz und mit einer guten Betreuung aufopferungsvoll für die Pflegebedürftigen eingesetzt", betonte der CDU-Politiker. Darauf könne die Gesellschaft stolz sein.

Die beabsichtigte Beschwerde vor dem Verfassungsgericht bekommt derart große Aufmerksamkeit auch deshalb, weil die Karlsruher Richter schon mehrfach in der Sozialpolitik bahnbrechende und teure Urteile gefällt haben. Sie zeigten sich in der Vergangenheit nicht nur als Hüter der Verfassung, sondern auch als Hüter des Sozialstaats. So erging 1992 das sogenannte Trümmerfrauenurteil. Damals kamen die Richter zu der Entscheidung, dass die Erziehung von Kindern in der Rentenversicherung stärker berücksichtigt werden müsse. Daraufhin führte die Politik die Mütterrente ein. Allerdings wurde für Frauen, die bis zu diesem Urteil ihre Kinder geboren hatten, nur ein Rentenpunkt pro Kind und Monat gut geschrieben. Die Frauen, die seit 1992 Kinder bekommen, erhalten drei Rentenpunkte. Mit der Rentenreform im Sommer sollen nun die älteren Mütter zwei Rentenpunkte erhalten.

Die Regelung, dass Kinderlose in der Pflegeversicherung 0,25 Prozentpunkte mehr zahlen müssen als Mütter und Väter, war ebenfalls keine Idee der Politik. Vielmehr hatte eine kinderreiche Familie geklagt, die sich benachteiligt sah. Denn ohne Nachwuchs funktionieren unsere über Umlagen finanzierten Sozialversicherungen nicht.

Zwischen den bisherigen Urteilen des Verfassungsgericht und der nun angestrebten Verfassungsbeschwerde besteht ein wesentlicher Unterschied: Die Urteile bisher gingen zugunsten von Familien aus und stärkten damit das Prinzip des Generationenvertrags. Sollte der unwahrscheinliche Fall eintreten, dass Karlsruhe einen bestimmten Standard von Pflege vorschreibt, würde dies durch einen höheren Finanzbedarf aus Steuern- oder Sozialversicherungsmitteln die jüngere Generation und Familien mit Kindern besonders belasten.

(qua)
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