Analyse Großer Triumph für kleine Parteien

Berlin/Brüssel · Bei der Europawahl am 25. Mai wird es hierzulande keine Sperrklausel geben. Deswegen könnten bis zu zwölf Parteien aus Deutschland ins Europa-Parlament einziehen. Rund 130 000 Stimmen wären dafür wohl nötig.

Bundesverfassungsgericht: Großer Triumph für kleine Parteien
Foto: Uli Deck

Das Bundesverfassungsgericht kippt die Drei-Prozent-Hürde für die Europawahl. Damit können kleine Parteien leichter den Sprung ins Straßburger Parlament schaffen.

Warum duldet das Verfassungsgericht keine Sperrklausel bei der Europawahl?

Die Karlsruher Richter begründen ihr Urteil mit der Chancengleichheit (Artikel 21 Absatz 1 Grundgesetz) und der Wahlrechtsgleichheit. Demnach müssen jeder Partei grundsätzlich die gleichen Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden. Zudem muss die Stimme eines jeden Wahlberechtigten gleich viel zählen. Eine Sperrklausel verhindert jedoch genau das: Denn Stimmen für Parteien, die an der Hürde scheitern, sind de facto verloren, weil sämtliche Sitze an die Parteien verteilt werden, die die Hürde übersprungen haben.

Bei der Bundestagswahl gibt es doch auch eine Fünf-Prozent-Hürde. Warum ist die okay?

Karlsruhe hält Ausnahmen von diesen Grundsätzen dann für rechtens, wenn ansonsten die Funktionsfähigkeit der Volksvertretung auf dem Spiel steht. Soll heißen: Im Bundestag muss die Bildung einer stabilen Mehrheit für die Wahl einer handlungsfähigen Regierung möglich sein.

Warum gilt das nicht für das Europaparlament?

Weil die EU-Volksvertretung anders funktioniert als der Bundestag. Die EU hat keine gewählte Regierung, die von einer stabilen Mehrheit der "Regierungsparteien" im Europaparlament gestützt wird. Die EU-Volksvertretung ist nach Karlsruher Definition kein richtiges Parlament. Der Quasi-Regierungschef der EU, der Kommissionspräsident, wird bisher weitgehend von den EU-Staats- und Regierungschefs bestimmt; die Hauptstädte benennen auch ihre jeweiligen nationalen Kommissare für die Brüsseler Exekutive.

Kommt das Urteil überraschend?

Nein. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 2011 die damals geltende Fünf-Prozent-Hürde im Europawahlrecht für verfassungswidrig erklärt. Daraufhin beschloss der Bundestag im vergangenen Jahr kurzerhand eine Drei-Prozent-Klausel. Die Kläger prangerten dies als illegitime Maßnahme zum Machterhalt der etablierten Parteien an. Karlsruhe schließt sich dieser Einschätzung an. Gerade bei der Wahlgesetzgebung bestehe die Gefahr, "dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt", so Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle bei der Urteilsverkündung.

Was bedeutet das Urteil für die Europawahl im Mai?

Kleine Parteien und EU-kritische Kräfte wie die "Alternative für Deutschland" (AfD) haben nun bessere Chancen, am 25. Mai Abgeordnete nach Straßburg zu schicken. Denn ein Sitz im EU-Parlament kann bereits mit weniger als einem Prozent der abgegebenen Stimmen errungen werden. Ein Beispiel: Hätte es bei der Europawahl 2009 keine Sperrklausel gegeben, wären sieben Parteien mehr aus Deutschland im EU-Parlament vertreten gewesen — die Freien Wähler (1,7 Prozent), die Republikaner (1,3 Prozent), die Tierschutzpartei (1,1 Prozent), die Familienpartei (1,0 Prozent), die Piratenpartei (0,9 Prozent), die Rentnerpartei (0,8 Prozent) sowie ganz knapp die ÖDP (0,5 Prozent). Der Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim, der in Karlsruhe die ÖDP vertrat, meint, dass für ein deutsches Mandat etwa 130 000 Stimmen erforderlich seien.

Schwächt das Urteil den deutschen Einfluss in Brüssel?

Ja. Im neuen Europaparlament wird Deutschland 96 der insgesamt 751 Sitze erhalten. Die werden voraussichtlich auf zwölf Parteien aufgeteilt werden müssen. Im Umkehrschluss heißt das: Die etablierten Kräfte — CDU, CSU, SPD und Grüne — büßen durch den Wegfall der Sperrklausel Sitze ein. Der Chef der CDU/CSU-Abgeordneten im Europaparlament, Herbert Reul, warnt zudem vor einem Imageverlust, wenn nun "Splitterparteien und radikale Kräfte aus Deutschland" ins EU-Parlament einziehen.

Ist die Funktionsfähigkeit des Europaparlaments in Gefahr?

Forsa-Chef Manfred Güllner befürchtet eine "Diktatur der Minoritäten". Umfragen zufolge könnten Extreme, Populisten und Anti-EU-Kräfte bis zu einem Viertel der Sitze im neuen EU-Parlament erringen. Der holländische Populist Geert Wilders und Frankreichs Rechtsaußen Marine Le Pen arbeiten gerade daran, im neuen EU-Parlament die Anti-EU-Kräfte zu einer starken Fraktion zu bündeln.

Wie haben die etablierten Volksparteien in Deutschland auf das Urteil reagiert?

CDU-Generalsekretär Peter Tauber bedauerte die Entscheidung aus Karlsruhe. "Eine stärkere Zersplitterung der Parteien im Europäischen Parlament wird dessen Arbeitsfähigkeit sicher nicht leichter machen", sagte er. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) wies auf die "guten Erfahrungen" hin, die Deutschland mit der Sperrklausel gemacht habe. Drastische Worte fand SPD-Vize Ralf Stegner. "Es ebnet den Weg für Rechtspopulisten und Anti-Europäer", sagte er. Und wie reagieren die kleinen Parteien?

Für die kleinen Parteien ist das Urteil ein großer Triumph. Die eurokritische Alternative für Deutschland (AfD) sprach von einem guten Signal. Der Chef der Piratenpartei, Thorsten Wirth, zeigte sich froh über das Urteil. Den etablierten Parteien warf er vor, nur die eigene Machtoption stärken zu wollen. Auch die Linkspartei begrüßte das Urteil. Die Fraktionschefin der Grünen im Europaparlament, Rebecca Harms, kritisierte das Urteil hingegen scharf. Es zeuge von "Unkenntnis oder Respektlosigkeit" gegenüber dem Europaparlament, sagte sie.

(RP)
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