Terrorgruppe Boko Haram Ein Jahr Bangen um 219 entführte Schülerinnen

Abuja · Die Terrorgruppe Boko Haram hatte die Mädchen aus Nigeria in ihre Gewalt gebracht. Die Verzweiflung der Angehörigen wächst.

Mai 2014: Boko Haram führt verschleppte Mädchen vor
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Mai 2014: Boko Haram führt verschleppte Mädchen vor

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Foto: afp, JM

Das Rot der Plakate, T-Shirts und Kappen ist in der nordnigerianischen Stadt Chibok nicht zu übersehen - es wirkt anklagend. Die leuchtende Farbe ist zum Markenzeichen der Aktivisten der Kampagne "Bring Back Our Girls" ("Bringt unsere Mädchen zurück") geworden, die eine einzige wichtige Forderung haben: Die von der Terrormiliz Boko Haram vor genau einem Jahr nachts aus den Schlafsälen ihrer Schule in Chibok entführten Mädchen sollen unverzüglich und unversehrt zu ihren Familien zurückgebracht werden.

Doch das wird immer unwahrscheinlicher: Von den meisten der 300 Schülerinnen im Alter von 16 bis 18 Jahren fehlt jede Spur. Jene, die freigelassen wurden oder fliehen konnten, waren krank und stark geschwächt oder wurden nach Vergewaltigungen schwanger. Über die 219 Mädchen, die weiter in der Gewalt der Terroristen sind, hieß es, sie seien ins Nachbarland Tschad verschleppt und dort zwangsverheiratet worden. Das hatte zumindest Boko-Haram-Anführer Abubakar Shekau wenige Wochen nach dem Überfall in einer Videobotschaft angedroht.

Später vermutete man die Schülerinnen im Sambisa-Wald, der lange als Rückzugsraum der Terroristen galt. Sie habe die Mädchen Ende 2014 in einer Koranschule in Gwoza östlich von Chibok getroffen, berichtete dagegen die Nigerianerin Liatu Andrawus (23). "Fast alle waren verheiratet worden." Andrawus war nach eigenen Angaben selbst früher entführt und mit einem Islamisten zwangsverheiratet worden, konnte aber fliehen. Eine Bestätigung ihrer Aussage gibt es nicht.

Vergangene Woche hieß es in Nigeria, vielleicht seien viele der Mädchen tot. Trotzdem müsse weiter auf ihr Schicksal aufmerksam gemacht werden, fordert Rotimi Olawale, Sprecher von "Bring Back Our Girls". "Solange wir nicht sicher sind, dass die Mädchen umgebracht wurden, läuft unsere Kampagne weiter", betont Olawale. "Damit stellen wir sicher, dass sich die Regierung weiter um die Befreiung kümmern muss."

Die Sekte Boko Haram
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Foto: dpa, axs

Derzeit findet eine Aktionswoche mit Vorträgen und Protestmärschen in Nigeria statt. Auch in den USA sind Aktionen geplant. Die Entführung hatte weltweit Entsetzen ausgelöst. Prominente wie Michelle Obama, David Cameron und die Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai forderten die Freilassung der Mädchen. "Jeden Tag beten wir für jene, die von der Gruppe verschleppt worden sind", sagt der katholische Bischof von Maiduguri im Nordosten Nigerias, Oliver Dashe Doeme.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International wirft den Sicherheitskräften vor, sie seien Stunden vor dem Überfall vor dem geplanten Angriff gewarnt worden und hätten die Entführung möglicherweise verhindern können. Der Regierung des scheidenden Staatspräsidenten Goodluck Jonathan wird Untätigkeit vorgeworfen. So dauerte es allein drei Wochen, bis sich der Präsident überhaupt zu dem Vorfall äußerte.

Vieles spricht dafür, dass die Mädchen gekidnappt wurden, weil die Dorfbewohner kein Schutzgeld an Boko Haram zahlen wollten. In vergleichbaren Fällen kamen Geiseln frei, wenn das nachgeholt wurde. Doch nicht zuletzt durch die internationale Aufmerksamkeit ist der Marktwert der Geiseln inzwischen so hoch, dass das als ausgeschlossen gilt.

Dabei ist Chibok kein Einzelfall; Tausende von Frauen haben Ähnliches erlebt. Lange vor dem 14. April 2014 kam es im Norden Nigerias wiederholt zu Entführungen. Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen sprach in der vergangenen Woche sogar von "zahllosen Fällen". Die 19-jährige Aisha schilderte Amnesty International zufolge, wie sie während ihrer dreimonatigen Gefangenschaft immer wieder vergewaltigt wurde, teils von bis zu sechs Männern. Sie habe zusehen müssen, wie Boko Haram mehr als 50 Menschen getötet habe, darunter ihre Schwester. "Sie wurden einfach in ein Massengrab im Busch geworfen", wird Aisha zitiert.

Die Massenkidnappings sind eine so brutale wie wirksame Einschüchterungsstrategie gegen die Bevölkerung. Bei Überfällen auf Dörfer lässt sich häufig erst Wochen später sagen, ob es auch Entführungen gab. Schließlich könnte es sein, dass sich die Verschwundenen irgendwo versteckt halten. Den Tätern verschafft das einen großen Vorsprung.

Auch Bischof Oliver kennt die Ausmaße der Verbrechen im Nordosten seines Heimatlandes. Er bleibt verhalten optimistisch, denn auch er teilt die Meinung, dass Boko Haram mittlerweile auf dem Rückzug sei. "Wir hören jetzt sehr oft, dass die meisten besetzten Gebiete zurückerobert sind." Womöglich ist die Wahrheit für die Eltern aber schrecklich: Nigerianische Zeitungen zitieren den UN-Menschenrechtskommissar Seid Raad al Hussein mit der Aussage, die Mädchen könnten ermordet worden sein, bevor die Terroristen die Flucht vor dem tschadischen Militär antraten. In Städten wie Bama seien Massengräber entdeckt worden, und es gebe Hinweise, dass die Mädchen zuletzt dort gewesen seien. Offiziell bestätigt ist aber nichts - die Angehörigen müssen weiter bangen.

(mic)
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