Blick in dunkle Jahre

Im Bundesarchiv lagern Mitgliederlisten von Hitlers Partei. Dort finden sich Namen von Prominenten, die in der Bundesrepublik Karriere machten. Neue Enthüllungen, alte Fragen.

Düsseldorf Wie kam Hans-Dietrich Genscher in die NSDAP? Nicht durch eigenen Willen, wird der ehemalige Bundesinnen- und Bundesaußenminister nicht müde zu versichern. Als vor etlichen Jahren zum ersten Mal bekannt wurde, dass sein Name in der Mitgliederkartei der NSDAP zu finden ist, sagte der langjährige FDP-Chef, das müsse 1945 per Sammelantrag ohne sein Wissen geschehen sein. 1945 war Genscher 18 Jahre alt.

Als Genscher jetzt noch einmal vom Hamburger Magazin "Stern" zu seiner Mitgliedschaft befragt wurde, äußerte er sich knapper: Nie habe er einen Aufnahmeantrag für Hitlers Partei unterschrieben. Von einem Sammelantrag war nicht mehr die Rede. Aus gutem Grund: Die deutsche Geschichtswissenschaft ist sich nämlich weitgehend einig, dass solche Sammelanträge nie zur Aufnahme in die Partei führten. Sie wurden zurückgeschickt. Dagegen kann das Argument, der Aufnahmeantrag könne von einer anderen Person, nicht aber vom angeblichen Antragsteller unterschrieben sein, nicht in jedem Fall widerlegt werden. So etwas mag es dann und wann gegeben haben.

Die Nachfrage des "Stern" bei Genscher war kein Zufall. Ein Mitarbeiter des Magazins hatte im Bundesarchiv wieder einmal die Mitgliederlisten der NSDAP durchforstet. Dabei war er auf bekannte Namen gestoßen, deren NSDAP-Zugehörigkeit allerdings bislang nicht bekannt war. Allen gemeinsam: Im jugendlichen Alter von 18 bis 20 Jahren hatten sie sich Hitlers Partei angeschlossen – kurz bevor deren Herrschaft kläglich zusammenbrach. Weitere Gemeinsamkeit: Im demokratischen Westdeutschland wurden sie durch Leistungen in der Politik, in der Wissenschaft und im Literaturbetrieb bekannt.

Nicht in jedem Fall ist die frühe Nähe zu Hitlers Partei überraschend. Der Schriftsteller Erich Loest, Jahrgang 1924, hat daraus keinen Hehl gemacht. Man muss erst gar nicht seine Erinnerungen lesen, es wird im Internet freimütig mitgeteilt. Auch der Politikwissenschaftler Iring Fetscher, geboren 1922, hat sich in einem Buch gefragt, wie er der nationalsozialistischen Versuchung erliegen konnte. Dass seine und Loests Mitgliedskarten jetzt gefunden wurden – nicht wirklich überraschend.

Anders liegt der Fall James Krüss. Der 1926 auf Helgoland geborene, 1997 gestorbene Kinderbuchautor ("Timm Thaler") war nie nazistischer Gedanken verdächtig, war vermutlich deswegen auch nie nach seinen politischen Jugend-Vorstellungen und eventuellen Verstrickungen gefragt worden. Sein Tod hat ihm das jetzt erspart.

Kurt Rebmann wird sich solche Fragen gefallen lassen müssen. Der einstige Generalbundesanwalt, einer der höchstdekorierten Beamten der Bundesrepublik, hatte nach der Ermordung seines Vorgängers Siegfried Buback öffentlich die Wiedereinführung der Todesstrafe propagiert. Rebmann, geboren 1924, hat sich als Terroristen-Jäger Feinde gemacht. Denen, und ihren Sympathisanten, liefert die bislang unbekannte NSDAP-Mitgliedschaft politische Munition.

Noch härter aber wird es voraussichtlich einen treffen, der ein personifiziertes Aushängeschild für den kulturellen Wandel Deutschlands nach dem Krieg war: Hilmar Hoffmann. Er brachte es vom Direktor der Volkshochschule in Oberhausen bis zum Präsidenten des Goethe-Instituts, mit dem die Bundesrepublik ihre Kulturpolitik in viele Länder trägt. Hoffmann war Gründer der Oberhausener Kurzfilmtage, bei denen junge Regisseure immer wieder an die deutsche Vergangenheit und ihre Ausstrahlung in die Gegenwart erinnerten. 20 Jahre lang, von 1970 bis 1990, war er Kulturstadtrat in Frankfurt, angesehen bei allen demokratischen Parteien. Und er war Gastprofessor in Jerusalem und Tel Aviv. Ob ihn die Israelis an ihre Hochschulen eingeladen hätten, wenn sie von der kurzfristigen Nähe des heute 85 Jahre alten Vorzeige-Linksliberalen zur Partei des mörderischen Antisemiten Hitler gewusst hätten?

Die neuen Enthüllungen werfen wieder alte Fragen auf. Fragen, die schon dem einstigen WDR-Chefredakteur Theo M. Loch, dem Rhetorik-Professor und Schriftsteller Walter Jens, dem Nobelpreisträger Günter Grass gestellt wurden, die ebenfalls ein langes Schweigen über eine kurze NS-Nähe breiteten. Warum haben sie – alle ja nicht nur Privatleute, sondern Repräsentanten eines Deutschland, das mit der Vergangenheit gründlich gebrochen hatte – nicht wie Loest oder Fetscher von sich aus reinen Tisch gemacht? Warum haben sie so lange geschwiegen? Werden jetzt eindrucksvolle Lebensleistungen überschattet oder gar entwertet?

Es sollte aber auch gefragt werden, ob und wie lange politische Irrtümer junger Leute als Instrumente politischer Agitation benutzt werden sollen. Vorausgesetzt, diese jungen Leute haben keine Verbrechen begangen. Oder ist der politische Irrtum schon ein Verbrechen? Das kann doch niemand in einem demokratischen Staat wollen.

Möglicherweise haben aber manche, die einst Hitler folgen wollten, so lange geschwiegen, weil sie im Fall des Falles auf Verharmloser hofften. "Welt Online" attackierte gestern den Jenaer Historiker Norbert Frei. Der gehört zu den Autoren einer Untersuchung, die die NS-Nähe des Auswärtigen Amtes äußerst kritisch bewertete. Den Historiker Martin Broszat aber, ebenfalls NSDAP-Mitglied, nahm Frei gegen Vorwürfe in Schutz. Walter Jens fand im NS-Kritiker Götz Aly einen Fürsprecher. Für Günter Grass wurde sogar angeführt, seine SS-Zugehörigkeit habe er im Privatgespräch einst einem Freund gestanden. Solche Verharmlosung hilft niemandem.

(RP)
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