Vor einem Jahr begann der Umzug in die neue Hauptstadt Berlin - mehr als nur Politik

Berlin (dpa). Acht Jahre nach der historischen Entscheidung des Bundestages ging das "Unternehmen Umzug" im Sommer 1999 ganz plötzlich los: Sechs Tage früher als geplant tuckerte der erste Laster am Morgen des 26. Juni vor das alte DDR-Bauministerium in Berlin-Mitte. Der damalige Bundesbauminister Franz Müntefering (SPD) wollte der erste sein, der sein Interimsquartier bezog. Trauben von Journalisten beobachteten zwei Tage später, wie der Umzugsbeauftragte höchst selbst die letzte Kiste in sein Ministerbüro wuchtete.

Dabei war der Start des einzigartigen Umzugs von Parlament und Regierung offiziell für den 1. Juli terminiert. Doch meldete sich an diesem Tag noch einmal das Parlament in der "Bonner Republik" zu Wort. Nach 50 Jahren tagte dort der Bundestag zum letzten Mal - gemeinsam mit dem Bundesrat, der erst jetzt, ein Jahr später nach Berlin kommt. Inzwischen ist Bonn ziemlich weit weg vom politischen Alltag - obwohl eigentlich noch sechs Ministerien ihren ersten Dienstsitz dort haben.

Noch letzten Sommer fragte man sich in Berlin: Wie wird das wohl werden, wenn wir wirklich Hauptstadt sind? Jetzt spielt die Musik hier, und das nicht nur im politischen Sinne. Die Hauptstadt sei im Gegensatz zu Bonn mehr als ein Ort der bundespolitischen Vorgänge und Inszenierungen, hinter dem die Stadt verschwinde, meinte kürzlich Bundestagspräsident Wolfgang Thierse - selbst Berliner - auf einer Tagung. "Hier wollen sich alle gesellschaftlichen Gruppen, Mächte und Kräfte inszenieren."

Tatsächlich verzeichnet die Stadt einen Ansturm: An Besuchern, Demonstrationen, Veranstaltungen. Verbände und Institutionen ziehen ganz um oder eröffnen zumindest ein Büro, Firmen präsentieren ihre neuen Produkte lieber hier als anderswo. Die Gastronomie blüht auf, die Szene kommt nach Berlin. Die Medien sammeln sich und Geschichten über die Stadt boomen. Manche prognostizieren der Stadt künftig echtes Metropolendasein wie Paris oder London.

Unbesehen davon meinte Thierse, die Stadt gehöre eben durch die Entwicklung des letzten Jahres nicht mehr allein ihren Bewohnern, sondern den Bürgern der Republik - was in Berlin mitunter "Unwillen" produziere. Damit benannte er ein Reizthema: Zwischen Bund und Land kracht es regelmäßig. Gestritten wird ums Geld. Im Kern geht es um die Frage, welche Lasten des Hauptstadt-Daseins der Bund aus seinem Geldbeutel bezahlt - bei der Kultur zum Beispiel, aber auch bei der Sicherheit. Und auch sonst herrscht nicht eitel Sonnenschein - wie zum Beispiel beim Streit um eine Bannmeile, die Berlins Regierungschef Eberhard Diepgen gegen die Demonstrationsflut fordert. Der Ton ist mitunter harsch und scheint vor allem die Berliner Seite zu verletzen.

Dabei sind doch gerade die Spreemetropolitaner für ihre "Schnauze" berühmt, und schon im Vorfeld des Umzugs fürchteten Bonner raue Manieren. Mit Argusaugen registrierten denn auch die Medien in der ersten Zeit nach dem Umzug Klagen der einen oder anderen Seite. In einer Anfang des Jahres veröffentlichen Kienbaum-Studie klagten Neu- Berliner über schlechten Service, mangelnde Sauberkeit und unfreundlichen Umgangston.

Stadtsoziologie-Studenten der Humboldt-Universität richteten ihren Blick jetzt in einer Umfrage konkret auf Abgeordnete. Es ging auch darum, ob der neue Standort Berlin vielleicht Entscheidungen in der Politik beeinflusst. Eine der Thesen vor dem Umzug war, dass das "Raumschiff Bonn" hier die Türen für die Wirklichkeit des Alltags öffnen müsse.

38 Politiker wurden interviewt - Umzugsgegner wie Befürworter aus allen Parteien. Fazit der Studenten: Der Umzug habe für die Politiker eher atmosphärische Veränderungen mit sich gebracht. Sie registrierten zwar das zum Teil als "anregend", zum Teil als "nervig" empfundene Großstadtambiente und mehr internationale Aufmerksamkeit. Aber: "In den politischen Entscheidungen gibt es keine Veränderungen."

(RPO Archiv)
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