Auszeichnung als Ansporn für Europa

Die Europäische Union steckt in ihrer bisher tiefsten Krise. Und gerade jetzt wird sie mit dem Friedensnobelpreis geehrt. Das Signal lautet: Wir brauchen einen neuen Aufbruch statt Verzagtheit.

Brüssel Bis heute ist nicht ganz klar, wer die Freundschafts-Geste zwischen ehemaligen "Erbfeinden" initiierte. Es geschah auf dem Soldatenfriedhof von Verdun. Plötzlich standen Frankreichs Staatspräsident François Mitterrand und der Bundeskanzler Helmut Kohl Hand in Hand vor den Gräbern der Gefallenen. Die Szene vom 22. September 1984 ist bis heute eines der symbolischsten Bilder für die versöhnende Kraft des Friedensprojekts Europa. Und für den Mut echter Staatsmänner, Historisches zu wagen – gegen alle Widerstände.

Seit Jahren wird in Deutschland jeden Herbst diskutiert, ob Helmut Kohl nicht den Friedensnobelpreis für seine Verdienste um die deutsche Einheit und die europäische Integration bekommen sollte. Jetzt erhält nicht ein einzelner "Gründervater" die wohl renommierteste weltweite Auszeichnung, sondern die EU als Ganzes. Kohl selbst sprach gestern von einer "klugen und weitsichtigen Entscheidung". Das stimmt. Die EU kann inmitten ihrer größten Krise seit der Gründung 1957 ein bisschen Stolz und Optimismus brauchen. Die Schulden-Misere macht nicht nur dem Euro, sondern auch der Akzeptanz der Idee zu schaffen. Europa versinkt in Verdruss. Extremisten und Populisten gewinnen mit Anti-Brüssel-Parolen in immer mehr Ländern Zulauf. Geberländer wie Deutschland sind es zunehmend satt, hochverschuldete Länder wie Griechenland mit Milliarden-Rettungspaketen zu stützen. Die Menschen in den Krisenländern fühlen sich dagegen von den reicheren Partnern im Stich gelassen. Die Schicksalsgemeinschaft, die vom Ausgleich zwischen Starken und Schwachen lebt, sie wird brüchig.

Da setzt der Friedensnobelpreis einen mutigen Kontrapunkt, lenkt den Blick weg vom Gezänk der Euro-Krise auf das große Ganze. Denn mit den Römischen Verträgen wurde 1957 eine Erfolgsgeschichte eingeleitet, die bis heute ihresgleichen sucht. Das Zusammenwachsen ehemaliger Feinde und deren Bekenntnis zur gewaltfreien Konfliktlösung haben dem Kontinent die längste Friedensperiode seiner Geschichte beschert. Mit der Integration ehemaliger Staaten des Warschauer Paktes überwand die EU die Spaltung Europas in Ost und West und bewies eindrucksvoll ihre Transformationskraft. Über die Wirtschaft (Montanunion, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, Binnenmarkt, Währungsunion) entstand ein auch politisch immer enger integrierter Verbund, auf den die 27 Mitgliedsländer weitreichende Kompetenzen übertrugen. Europa ist heute eine staatsähnliche Union, auf die andere Regionen der Welt trotz der aktuellen Krise weiter mit Bewunderung schauen.

Es stimmt: Den deutschen Steuerzahler kostet die EU netto rund sechs Milliarden Euro jährlich. Deutschland profitiert aber auch wie kein anderes EU-Land vom Binnenmarkt. 63 Prozent aller deutschen Exporte gehen in die anderen EU-Staaten. Jeder sechste deutsche Arbeitsplatz produziert für den Export in die EU. Das alles ist zu wertvoll, um es leichtfertig zu riskieren.

Deshalb darf man den Friedensnobelpreis vor allem als eine Aufforderung an die EU zum mutigen Handeln verstehen. Die Euro-Krise hat uns vor Augen geführt, dass es jetzt darum gehen muss, den Geburtsfehler der Gemeinschaftswährung auszumerzen. Den Vätern des Euro um Helmut Kohl war bei der Einführung ja sehr wohl bewusst gewesen, dass eine Währungsunion ohne politische Union auf Dauer nicht funktionieren kann. Doch die Staaten wollten damals nicht zu viel Macht an Brüssel abgeben. Nun werden sie es unter dem Druck der Krise wohl doch noch tun müssen.

Europa muss sich auf den Weg Richtung Bundesstaat machen. Die Währungsunion muss durch eine gemeinsame Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik ergänzt werden. Die Kommission sollte zu einer echten Regierung weiterentwickelt, das Europäische Parlament gestärkt werden. Zudem ist eine Konzentration auf das Wesentliche überfällig: Europa muss sich das Klein-Klein der Glühbirnenverbote verkneifen und dafür in großen Dingen wie der Außen- und Verteidigungspolitik mehr Kompetenzen erhalten.

Das alles geht aber nicht von heute auf morgen – und vor allem nicht über die Köpfe der Bürger hinweg. Das Eliten-Projekt EU muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Europas Politiker müssen viel mehr als früher für das Einigungsprojekt kämpfen, die Bürger von seinem Sinn überzeugen. Genau diese Aufgabe gibt ihnen der Friedensnobelpreis mit auf den Weg. Denn der Satz von Konrad Adenauer gilt in den Zeiten der Krise mehr denn je: "Die Einheit Europas war ein Traum weniger. Sie wurde eine Hoffnung für viele. Sie ist heute eine Notwendigkeit für alle."

(RP)
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