Zehntausende ethnische Armenier fliehen aus Bergkarabach Exodus aus der umkämpften Zone
Im Würgegriff der Großmächte: Wie die ethnischen Armenier aus Bergkarabach zwischen den Interessen Russlands, der Türkei und des energiereichen Dauergegners Aserbaidschan zerrieben werden
Die nächste Krise auf der Weltkarte: Bergkarabach, Enklave ethnischer Armenier auf dem Staatsgebiet von Aserbaidschan. Das Thema treibt die Außenministerin um. Noch vergangene Woche bei den Vereinten Nationen drängte Annalena Baerbock im UN-Sicherheitsrat auf eine Verhandlungslösung unter Vermittlung der EU und kritisierte den harten Kurs der Regierung in Baku: „Aserbaidschan hat sich entschlossen, durch militärische Gewalt Fakten zu schaffen.“ Doch jetzt, da Zehntausende ethnische Armenier aus ihrer Heimat Bergkarabach aus Angst vor Verfolgung und Repressionen durch Aserbaidschan fliehen, appelliert die Grünen-Politikerin an „Augen und Ohren der internationalen Gemeinschaft vor Ort“ und auch an die Regierung in Baku, internationale Beobachter zuzulassen. Denn: „Wir blicken mit den allergrößten Sorgen nach Bergkarabach. Niemand weiß wirklich, wie es den Menschen dort geht.“ Von rund 120.000 ethnischen Armeniern aus der Enklave Bergkarabach, um die Armenien und Aserbaidschan mehrfach Krieg führten, sind inzwischen rund 50.000 Geflüchtete im wirtschaftlich armen Armenien angekommen. Ein wahrer Exodus von Menschen in Angst, die sich in oft völlig überfüllten Autos über die Grenze nach Armenien retten.
Das Vertrauen der ethnischen Armenier darauf, dass die Regierung in Aserbaidschan und deren Sicherheitskräfte sie weiter unbehelligt leben lassen, ist weitgehend verbraucht. Erst schnitt Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew, der sein Land mit strenger Hand regiert, die Armenier in Bergkarabach mit einer monatelangen Blockade von der Versorgung mit Lebensmitteln, Treibstoff, Medikamenten und Toilettenartikeln ab. Dann ließ er Lieferungen wieder zu und stellte sich damit nach außen als Nothelfer dar. Dann kam der Befehl an die aserbaidschanischen Streitkräfte, die Enklave anzugreifen und zu erobern. Auch in Kreisen deutscher Diplomaten geht man davon aus, dass Alijew nicht ohne Rückendeckung der Türkei und von Russland, eigentlich die Schutzmacht Armeniens, den militärischen Schlag gegen Bergkarabach gewagt hätte. Die ethnischen Armenier aus Bergkarabach müssen so in der Furcht leben, zwischen den Interessen Russlands, der Türkei und des energiereichen Dauergegners Aserbaidschan zerrieben zu werden.
Ob Armenien – ohne Russlands Unterstützung – tatsächlich noch die Kraft hat, einen nächsten Kampf um Bergkarabach anzugehen, gilt derzeit als unwahrscheinlich. Ob Aserbaidschans Herrscher Alijew wiederum seine Truppen noch weitermarschieren lässt und es nach der Einnahme von Bergkarabach auch wagt, Armenien selbst anzugreifen, gilt als ungewiss. Ein solcher Schritt könnte im latent krisenanfälligen Südkaukasus einen Flächenbrand auslösen. Und Probleme hat die Region schon genügend. Womöglich würde Russland, das im Ukraine-Krieg gebunden ist, in diesem Fall aber nicht länger zusehen könnte, mit Truppen von OVKS-Staaten eingreifen. Die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) ist ein Militärbündnis ehemaliger Sowjetstaaten, das von Russland angeführt wird.
Der erneut mit Waffen ausgetragene ethnische Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach hat die Furcht vor einer Ausweitung angefacht. Die Europäische Union sieht sich zur Vermittlung und schneller Eindämmung der Krise gefordert. Wenn sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in der ersten Oktober-Woche im spanischen Granada treffen, sollen auch Aserbaidschans Präsident Alijew und Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan im Rahmen des Treffens der Europäischen Politischen Gemeinschaft dabei sein (EPG). Die EU will vermitteln und einen nächsten längeren bewaffneten Konflikt unbedingt vermeiden helfen. Außenministerin Baerbock appelliert an Empathie in Baku: „Kinder, Frauen und Männer in Bergkarabach müssen ohne Angst in Frieden und Würde in ihren Häusern und ihrer Heimat bleiben können.“ Der Exodus über die Grenze nach Armenien deutet aber auf das genaue Gegenteil hin: auf Abschied aus Bergkarabach.


