Gastbeitrag zur Lage in Syrien Ihr sorgt euch um euren guten Schlaf

Berlin · Wenn der Westen den Wiederaufbau in Syrien finanziert, ohne dies an die Umsetzung politischer Reformen zu koppeln, ist das nächste Gemetzel schon programmiert. Trotzdem könnte es genau so kommen. Ein Gastbeitrag.

 Unser Gastautor Yassin al Haj Saleh lebt heute in Berlin.

Unser Gastautor Yassin al Haj Saleh lebt heute in Berlin.

Foto: Wissenschaftskolleg zu Berlin

Die UN schätzen die Kosten für die Politik der verbrannten Erde beziehungsweise für den Wiederaufbau in Syrien auf 400 Milliarden Dollar. Andere Schätzungen beziffern die Kosten noch höher. Aber keine Art von Wiederaufbau kann die Toten wieder lebendig machen oder denen, die geliebte Menschen verloren haben oder seit Jahren nicht wissen, was mit ihnen passiert ist, ihren Schmerz nehmen. Ebenso wenig kann ein Wiederaufbau Hunderttausenden von Kindern ihre Zukunft wiedergeben oder dazu beitragen, die Mörder zur Rechenschaft ziehen. Die 400 Milliarden Dollar würden lediglich dazu benötigt, eine Infrastruktur wiederherzustellen, die ein Regime zerstört hat, das seit einem halben Jahrhundert regiert und seit 2011 zusammen mit Russland, Iran und Konsorten mit Fassbomben, Vakuumbomben, bunkerbrechenden Bomben und Phosphorbomben die syrischen Aufständischen vernichtet.

Im August 2017 sprach Baschar al Assad davon, dass der Verlust von Menschenleben und die Zerstörungen dadurch etwas aufgewogen würden, dass die syrische Gesellschaft nun „homogener“ sei. Wie man weiß, liegt Homogenität faschistischen Regimen sehr am Herzen. Wir müssen nur an die Nazi-Herrschaft zurückdenken oder an die ethnischen Säuberungen auf dem Balkan in den 90er Jahren. Einen anderen Effekt der angeblichen Homogenisierung ließ Assad unerwähnt: Dass sie es einer Dynastie, die Genozid begeht, ermöglicht, an der Macht zu bleiben.

Einen Wiederaufbau in Syrien zu leisten, ohne dass sich die politischen Verhältnisse dort grundlegend ändern, wäre aber nicht nur unmoralisch und würde den Syrern ihre politische und ethische Tauglichkeit absprechen, indem man sie auf lediglich materiell Bedürftige herabstuft, sondern er wäre auch in Bezug auf das Materielle unfruchtbar. Warum? Weil sich die superreichen selbsterklärten Besitzer des Landes zwei Generationen lang wie eine kleptokratische Mafia verhalten haben, die sich mit Waffengewalt der öffentlichen Ressourcen bedient, ohne irgendjemandem Rechenschaft darüber abzulegen. Die gesamte Zivilgesellschaft und unabhängige Organisationen, die kontrollieren oder protestieren könnten, wurden vom Regime systematisch zerstört. Der Reichste aller Reichen ist in Syrien heute Rami Makhluf, ein Cousin mütterlicherseits von Präsident Assad. Sein Vermögen stammt aus der Privatisierung von Staatsbesitz.

In Syrien gab es unter Assad nie eine unabhängige Justiz, an die man sich im Streitfall wenden konnte. Zudem gibt es kein freies Parlament, das Gesetze erlässt, die für alle gelten und das deren Einhaltung kontrolliert. Und wenn neue Wirtschaftsgesetze ergehen, dann wissen die dem Regime Nahestehenden im Vorhinein darüber und profitieren davon, wenn die Gesetze nicht ohnehin genau für diese Leute gemacht werden. Und schließlich gibt es im Land keine freien Gewerkschaften und kein Streikrecht.

Selbst wenn man also ganz unethisch in Betracht zöge, dass Syrer allenfalls materielle Bedürfnisse und keine politischen Rechte hätten, dann hieße das Fehlen von unabhängiger Justiz, Informationsfreiheit, freiem Parlament und Gewerkschaften, dass die Finanzierung eines Wiederaufbaus auch eine Neufinanzierung eines Genozidregimes wäre, dem damit die Kosten erstattet würden, die ihm durch den Krieg gegen die eigene Bevölkerung entstanden sind. Im Ergebnis entstünden wahrscheinlich supermoderne Bauten in heute zerstörten Gebieten, aus denen die Bewohner entschädigungslos vertrieben würden und wo sich die Nutznießer des Regimes und ihre Handlanger niederließen.

Die Armen würden zugleich in Gebiete verdrängt, wo sie unsichtbar werden und dem „auf ewig“ herrschenden Regime nicht die Laune verderben. Der syrische Erlass Nummer 10 vom April 2018 enteignet praktisch alle, die ihren Immobilienbesitz nicht nachweisen können, weil die entsprechenden Urkunden entweder mit ihren Häusern vernichtet wurden, oder weil sie ins Ausland fliehen mussten und bei Rückkehr um ihr Leben fürchten müssten. Oder sie gehören zu den etwa 85.000 „Verschwundenen“. Der Erlass sanktioniert somit eine erzwungene demografische Änderung und hindert zudem Flüchtlinge an einer Rückkehr.

Was nun die Parole „Assad oder wir brennen das Land nieder!“ betrifft, so haben wir in Syrien heute beides. Aber dafür, den Brandstifter auch noch zu belohnen, nachdem er seine Untertanen hingemetzelt und vertrieben hat, gibt es keinen Grund. Denn genau dieses Beharren auf ewigem Machterhalt ist der Grund für das wiederholte Niederbrennen des Landes.

Daraus ergibt sich, dass ein Wiederaufbau in Syrien an eine echte politische Veränderung geknüpft sein müsste. Ich bin diesbezüglich nicht optimistisch, denn die internationale Gemeinschaft denkt nicht gerne über komplizierte politische Dinge nach, sondern sorgt sich eher um ihren guten Schlaf. Es wäre der Welt lieber, die Syrer verschwänden eines Tages auf magische Weise und wären still, als dass man die Wurzel des Übels bekämpft: dass den Syrern ihr Land nicht gehört. Die Welt setzt aber lieber auf finanzielle und technische Lösungen für Probleme, die im Grunde politischer und sozialer Natur sind.

Das wird nicht funktionieren. Syrien benötigt einen politischen Staat, der seinen Bürgern gehört und in dem Lösungen und Kompromisse gemeinschaftlich ausgehandelt werden, keinen Staat als Privateigentum, der auf Folter, Mord und Raub beruht.

Übersetzt aus dem Arabischen von Günther Orth.

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