Irak-Akten veröffentlicht Wikileaks macht den Krieg wieder lebendig

Bagdad/Washington (RPO). Die neue Veröffentlichung der Internetplattform Wikileaks ist das größte Informationsleck dieser Art in der US-Geschichte. Die Dokumente beschreiben zahllose Ereignisse aus der Zeit vom 1. Januar 2004 bis zum 31. Dezember 2009. Kritiker bemängeln, die Unterlagen lieferten nichts Neues. Aber grauenhafte Details lassen den Krieg im Irak wieder lebendig werden.

Wie der Irak den Abzug der US-Truppen feiert
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Die fast 400.000 auf Wikileaks veröffentlichten Dokumente stammen angeblich aus einer Datenbank des Pentagon. Sie dokumentieren den blutigen Alltag des Krieges. Und sie illustrieren die Hilflosigkeit der US-Truppen angesichts des zunehmenden Chaos im Irak.

Belegt werden brutale Folterungen Inhaftierter durch irakische Sicherheitskräfte. Wikileaks spricht von "zahlreichen Fällen von Kriegsverbrechen". Nach einer Auswertung der Dokumente berichtete die "New York Times", die US-Behörden seien in einigen Missbrauchsfällen den Vorwürfen gegen die irakischen Sicherheitskräfte nachgegangen. Allerdings schienen die meisten in den Archiven vermerkten Vorwürfe ignoriert worden zu sein.

Was steht in den Dokumenten?

Zivilisten wurden getötet Es sind die vielen Details, die die Wirkung der Dokumente ausmachen. Ein Feldbericht etwa beschreibt, wie ein US-Soldat das Feuer auf ein Auto eröffnet, eine Mutter tötet und ihre drei Töchter verletzt. Die Familie hatte - offenbar von der Sonne geblendet - die Aufforderung zum Halten übersehen.

Ein anderer Bericht dokumentiert, wie sich zwei irakische Aufständische den US-Soldaten ergeben wollten. Schauplatz: ein Hubschrauber des US-Militärs. Die Soldaten fragten über Funk beim Stützpunkt um Rat. Die Antwort: Festnahmen im Hubschrauber seien nicht möglich, die kapitulationsbereiten Iraker seien also "immer noch als Ziele" anzusehen. Sie wurden daraufhin kurzerhand erschossen.

Eine Analyse der Dokumente in Zusammenarbeit mit der Internet-Plattform Iraq Body Count hat nach Angaben von Wikileaks ergeben, dass 15.000 Menschen mehr im Krieg gestorben seien als bislang bekannt. "Wir können nun sagen, dass seit 2003 insgesamt mehr als 150.000 Menschen im Irak getötet wurden", sagte der Mitgründer von Iraq Body Count, John Sloboda. "Davon waren etwa 80 Prozent Zivilisten." Berichten britischer Journalisten zufolge belegen die WikiLeaks-Dokumente neue Fälle, in denen Mitarbeiter der einst als Blackwater bekannten Sicherheitsfirma Zivilisten getötet haben sollen.

Pannen Die Bericht machen auch deutlich, wie kläglich sich die Truppen im Irak mitunter anstellten. So konnten britische Soldaten im Jahr 2005 den irakischen El-Kaida-Chef Abu Mussab Sarkawi angeblich nicht festnehmen, weil ihrem Helikopter das Benzin ausging und sie umkehren mussten. Wie die britische Zeitung "The Observer" unter Berufung auf die Dokumente berichtete, spürten britische Geheimdienste Sarkawi im März 2005 nahe der südirakischen Stadt Bassra auf. Als dem Helikopter das Benzin ausging, wurde die Überwachung abgebrochen. Später eintreffende britische Soldaten konnten mangels Luftunterstützung nur noch zufällige Spuren verfolgen, die aber nicht zum Aufspüren Sarkawis führten. Der Jordanier wurde schließlich im Juni 2006 bei einem US-Luftangriff getötet.

Misshandlungen und Folter In irakischen Gefängnissen soll es zu schweren Misshandlungen - bis hin zu Vergewaltigungen und Mord - durch einheimische Polizisten und Soldaten gekommen sein, denen die USA nicht nachgegangen sein sollen. Die Übergriffe in den irakischen Gefängnissen stellen Medienberichten zufolge Misshandlungen in US-Haftanstalten weit in den Schatten.

Einfluss des Iran Aus Berichten der Militärgeheimdienste geht hervor, dass die USA - wie bereits bekannt - iranische Agenten hinter der Ausbildung, Bewaffnung und Führung irakischer Aufständischer vermuten.

Heftige Kritik aus USA und Großbritannien

Die Regierungen der USA und Großbritanniens hatten die Enthüllungen bereits vorab scharf kritisiert und von einer Gefährdung ihrer Soldaten gesprochen. Hochrangige US-Politiker äußerten sich am Wochenende zunächst nicht zu der Veröffentlichung. Lediglich ein Pentagon-Sprecher wies die Berichte scharf zurück. Sie umfassten lediglich Momentaufnahmen, ohne eine umfassende Geschichte des Krieges zu erzählen. Vor den Kongresswahlen spielen die enthüllungen keine nennenswerte Rolle. Die Wirtschaftslage ist das alles bestimmende Thema.

Aus dem irakischen Menschenrechtsministerium lautete die Reaktion: "Keine Überraschungen", und: "Wir haben bereits auf mehrere der erwähnten Fakten hingewiesen."

Doch macht die wütende Reaktion der US-Regierung deutlich, wie groß die Furcht vor der Sprengkraft solcher Enthüllungen ist. Völlig ungelöst ist die Frage, wie im digitalen Zeitalter Vertraulichkeit zu gewährleisten ist, wenn ein einzelner Mitarbeiter mit ein paar Mausklicks zehntausende Dokumente in die Öffentlichkeit tragen kann. Zudem ist unsicher, wie weit die Dokumente die Beziehungen zur muslimischen Welt verschlechtern. In arabischen Fernsehsendern ist Wikileaks das bestimmende Thema.

Auch US-Medien äußerten sich zurückhaltend. "Akten beschreiben angebliche Irak-Kriegsverbrechen", lautete die erste CNN-Eilmeldung. "US-Truppen misshandelten Gefangene Jahre nach Abu Ghureib", titelte die "Huffington Post" mit Verweis auf den Folterskandal von 2004. ABC News dagegen hob die bisher unbekannte offiziellen Totenzahlen hervor. Die Abendsendungen der großen US-Nachrichtensender Fox News, MSNBC und CNN schenkten den Irak-Berichten am Freitag keine prominente Beachtung.

Informanten gefährdet

Pentagon-Sprecher Geoff Morrell zeigte sich im TV-Sender CNN empört, es handle sich um Geheimakten, die "der Feind sicher gegen uns nutzen wird". Es gebe "300 Namen von Irakern, von denen wir glauben, dass sie besonders gefährdet sein könnten". Dies wies WikiLeaks via Twitter zurück: In den Irak-Protokollen "stehen keine Namen", hieß es. Ex-General Stanley McChrystal, zuletzt US-Oberkommandierender in Afghanistan, nannte das Vorgehen "illegal".

CNN bezeichnete die Tatsache, dass der modernsten Truppe der Welt eine solche "massive Datensicherheitslücke" unterlaufen kann, als eine internationale Demütigung. Dies werfe generelle Fragen nach dem Schutz kriegsrelevanter Regierungsinformationen auf.

Menschenrechtsorganisation fordert Prüfung

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch forderte die irakische Regierung auf, Berichte über die systematische Folter von Häftlingen durch irakische Sicherheitskräfte zu prüfen. Die Regierung müsse zudem die Verantwortlichen für Folter und andere Straftaten bestrafen, erklärte die Organisation.

Auch die USA müssten prüfen, ob die US-Armee internationales Recht gebrochen habe, indem tausende Häftlinge an die irakischen Behörden übergeben worden seien, obwohl das Risiko der Folter bestanden habe, forderte Human Rights Watch. Es sei "klar", dass die USA von den "systematischen Misshandlungen" der Häftlinge durch irakische Sicherheitskräfte gewusst habe.

Iraks Regierungschef: Eine Medien-Kampagne

Zuvor hatte schon Iraks Innenminister Dschawad al-Bolani erklärt, ein Ausschuss werde sich mit den Vorwürfen beschäftigen. "Von dem was ich gehört habe, sind einige dieser Berichte alt", sagte er jedoch. Im Innenministerium waren zum Höhepunkt der Gewalt 2006-2007 Tausende Beamte entlassen worden. Hintergrund waren Enthüllungen über Misshandlungen von Sunniten in irakischen Geheimgefängnissen. Das Innenministerium war zu dieser Zeit von schiitischen Milizionären unterwandert, die Todesschwadronen bildeten und Jagd auf die früher herrschenden Sunniten machten.

Der scheidende irakische Ministerpräsident wittert eine Verschwörung. "Hinter dieser Medien-Kampagne stehen politische Ziele und einige wollen diese Dokumente gegen nationale Führer, insbesondere gegen den Ministerpräsidenten, nutzen", hieß es in einer Erklärung aus Malikis Büro vom Samstag.

(RTR/AFP)
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