Analyse Wie eine Prophezeiung für Ägypten

Santa Barbara (RP). Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Paul Amar verfasste etwa zwei Wochen vor dem Umsturz in Ägypten eine Analyse mit nahzu prophetischer Kraft. Seine Schilderung der widerstreitenden Kräfte und Machtaber im einstigen Reiche des Pharaos entfaltet auch heute noch erhellende Erklärungskräft für das Innenleben eines Landes der Revolution. Ein Gastbeitrag.

Ägypten: Chronologie eines Umsturzes
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Ägypten: Chronologie eines Umsturzes

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Foto: AP

Viele internationale Beobachter haben Mühe, die komplexen Kräfte zu verstehen, die das Geschehen in Ägypten vorantreiben. Denn die Gruppen, die sich gegenüberstehen, lassen sich nicht einfach in "Gute" und "Böse" aufteilen, wie es immer wieder versucht wird. Eine solche Sichtweise verschleiert mehr, als sie erhellt. Die Revolte wurde auch von unsichtbaren Kräften beeinflusst, neben dem Militär vor allem von Polizei, Geheim- und Sicherheitsdiensten. Sie alle haben eigene Motive und Seilschaften.

Vor allem drei Erklärungsmodelle sind zurzeit im Umlauf, doch jedes hat seine Grenzen.

Erstens: Volk gegen Diktatur. Diese Sicht führt zu liberaler Naivität und zur Verkennung der aktiven Rolle, die das Militär und die Eliten des Landes bei diesem Volksaufstand spielen.

Zweitens: säkulare Kräfte gegen Islamisten. Dieses Modell führt zum Ruf nach Stabilität im Stil der 80er Jahre und zu islamfeindlichen Ängsten vor der angeblich extremistischen "arabischen Straße".

Drittens: alte Garde gegen frustrierte Jugend. Dieses Modell ist durch eine romantische Sicht der Proteste im Stil der 60er Jahre geprägt, vermag aber weder die strukturelle und institutionelle Dynamik hinter dem ägyptischen Aufstand zu erklären noch die wichtige Rolle vieler 70-jähriger Akteure aus der Nasser-Zeit.

Um ein umfassenderes Bild zu zeichnen, ist es hilfreich, die treibenden Kräfte innerhalb der militärischen und polizeilichen Institutionen des staatlichen Sicherheitsapparats zu identifizieren.

Zeigt die Polizei eine einheitliche Haltung zu den Vorgängen?

In Ägypten steht die Polizei (al Shurta) unter der Leitung des Innenministeriums, das Mubarak und dem Präsidialamt sehr nahe steht und politisch mit ihm aufs Engste verbunden ist. Die einzelnen Polizeireviere haben in den letzten Jahrzehnten eine gewisse Autonomie erlangt. Manche übernahmen eine militante Ideologie oder eine moralische Mission. Andere haben sich auf Drogenhandel oder Schutzgelderpressung gegenüber der lokalen Geschäftswelt verlegt. Von unten nach oben gesehen ist die politische Zuverlässigkeit der Polizei nicht sonderlich groß. Dafür verfolgten die Reviere völlig unterschiedliche Eigeninteressen und beweisen Unternehmergeist.

Wer kontrolliert die zahlreichen gewalttätigen Straßenbanden?

In den 80er Jahren war die Polizei mit einer wachsenden Zahl von Banden konfrontiert, die im ägyptischen Arabisch als Baltagiya bezeichnet werden. Diese Straßenbanden beherrschten bald zahlreiche illegale Siedlungen und Slums in Kairo. Ausländer und die ägyptische Bourgeoisie hielten die Baltagiya für islamistisch, aber in Wirklichkeit waren sie völlig unideologisch. In den frühen 90er Jahren entschied das Innenministerium: "Wenn du sie nicht besiegen kannst, musst du sie kaufen."

So begannen das Innenministerium und der Zentrale Sicherheitsdienst, die Repression auf die "Baltagiya" auszulagern, sie dafür gut zu bezahlen und sie für den Einsatz sexueller Gewalt (vom Grapschen bis hin zur Vergewaltigung) auszubilden, um weibliche Demonstranten ebenso wie männliche Gefangene zu bestrafen und abzuschrecken. Zugleich verwandelte das Innenministerium die Geheimpolizei (Mabahith Amn al Dawla) in eine monströse und bedrohliche Organisation, die ungezählte Dissidenten verhaftete und folterte.

Warum verlor Mubarak den Einfluss über die Sicherheitsdienste?

Die Zentralen Sicherheitsdienste (Amn al Markazi) sind unabhängig vom Innenministerium. Das sind die schwarz uniformierten und behelmten Männer, die in den Medien "die Polizei" genannt werden. Die Zentralen Sicherheitsdienste gelten als Hosni Mubaraks Privatarmee. Sie sind keine Revolutionsgarden oder Moralwächter wie die Bassidsch, die im Iran die Proteste der Grünen Bewegung unterdrückten. Die Amn al Markazi sind schlecht bezahlt und unideologisch. Sie haben sogar immer mal wieder massenhaft gegen Mubarak aufbegehrt, um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen.

Könnten sie nicht auf die finstere Unterstützung der Baltagiya zählen, wären sie wahrscheinlich keine besonders einschüchternde Streitmacht. Die lustlose Resignation in den Augen mancher Amn-al-Markazi-Soldaten, als sie von Demonstranten geherzt und liebevoll entwaffnet wurden, gehört bislang zu den eindrucksvollsten Ikonen dieser Revolution. Präsident Hosni Mubaraks Machtverlust begann genau in dem Augenblick, als Demonstranten Markazi-Offiziere auf die Wangen küssten, worauf diese prompt in Tränengaswolken verschwanden und nie mehr zurückkehrten.

Welche Motive hat die Armee für ihr aktives Eingreifen gegen Mubarak?

Die Streitkräfte Ägyptens haben kaum Verbindungen zu den Amn al Markazi oder zur Polizei und betrachten sich gewissermaßen als Staat im Staate. Man könnte sagen: Ägypten ist immer noch eine Art Militärdiktatur, denn es handelt sich immer noch um das Regime, das die Revolution der Freien Offiziere in den 50er Jahren hervorgebracht hat. Doch das Militär ist an den Rand gedrängt, seit der ägyptische Präsident Anwar al Sadat das Camp-David-Abkommen mit Israel und den USA unterzeichnet hat. Seit 1977 durfte die Armee gegen niemanden mehr kämpfen. Dafür erhielten die Generäle gewaltige Summen an amerikanischer Militärhilfe. Man gewährte ihnen Konzessionen für den Betrieb von Einkaufszentren, den Bau von eingezäunten Städten in der Wüste und von Strandhotels an den Küsten. Und man ermunterte sie, in billigen Casinos herumzusitzen.

Diese Bestechung hat die Militärs zu einer unglaublich organisierten Interessengruppe nationalistischer Geschäftsleute werden lassen. Sie liebäugeln mit Investitionen im Ausland, fühlen sich aber ökonomisch und symbolisch loyal gegenüber dem nationalen Territorium. Wie auch in anderen Ländern der Region (Pakistan, Irak, den Golfstaaten) handeln die Amerikaner sich mit ihrer Militärhilfe keine Loyalität gegenüber Amerika ein, sondern nur Ressentiments.

In der Armee machte sich ein Gefühl tiefster Scham breit

In den vergangenen Jahren ist im ägyptischen Militär ein kollektives nationales Pflichtgefühl gewachsen und zugleich ein Gefühl tiefster Scham angesichts einer als solcher empfundenen "kastrierten Männlichkeit", weil es nicht für das eigene Volk eintritt. Die nationalistisch denkenden Streitkräfte möchten ihre Ehre wiederherstellen und sind angewidert von der Korruption der Polizei und der Brutalität der Baltagiya. Und wie es aussieht, verstehen sich die "Nationalkapitalisten" des Militärs als Erzrivalen der neoliberalen "Spezi-Kapitalisten" im Umfeld des Mubarak-Sohns Gamal, die alles privatisieren, was sie in die Hände bekommen, und die Besitztümer des Landes an Investoren aus China, USA und den Golfstaaten verscherbeln.

So wird verständlich, warum wir in der ersten Phase dieser Revolution am Freitag, 28. Januar, einen sehr raschen Staatsstreich des Militärs gegen Polizei und Sicherheitsdienst erlebt haben, der zum Verschwinden Gamal Mubaraks und des verhassten Innenministers Habib el Adly geführt hat. Doch das Militär ist seinerseits gespalten. Innerhalb der Streitkräfte gibt es zwei Elite-Einheiten: die Präsidentengarde und die Luftwaffe. Sie blieben Mubarak zunächst enger verbunden, während die übrigen Teile des Militärs sich direkt von ihm abwandten.

So ist auch zu erklären, weshalb der Generalstabschef der Streitkräfte, Muhammad Tantawi, sich am 30. Januar unter die Demonstranten mischte und ihnen seine Unterstützung signalisierte, während gleichzeitig der Luftwaffenchef zu Mubaraks neuem Ministerpräsidenten ernannt wurde und Flugzeuge losschickte, um die Demonstranten einzuschüchtern. Es erklärt außerdem, weshalb die Präsidentengarde das Gebäude des staatlichen Fernsehens beschützte und am 28. Januar gegen die Demonstranten vorging, statt sich auf deren Seite zu stellen.

Auf welcher Seite steht jetzt der Geheimdienst?

Der am 29. Januar zum Vizepräsidenten ernannte Omar Suleiman war früher Chef des Geheimdienstes (al Mukhabarat), der zum Militär und nicht zur Polizei gehört. Dieser Geheimdienst ist für nach außen gerichtete Geheimoperationen, Verhaftungen und Verhöre zuständig. Somit hat Suleimans Mukhabarat nur vergleichsweise wenige ägyptische Dissidenten verhaftet und gefoltert und ist daher weniger verhasst als der Mubahith. Der Mukhabarat hat entscheidende Bedeutung für einen möglichen Wechsel. Der Geheimdienst schätzt Gamal Mubarak und die Fraktion der "Spezi-Kapitalisten" nicht, ist aber besessen vom Wunsch nach Stabilität und unterhält seit Langem enge Beziehungen zur CIA und zum US-Militär. Der Aufstieg des Militärs und damit auch des militärischen Geheimdienstes erklärt, warum alle Geschäftsfreunde Gamal Mubaraks am Freitag, 28. Januar, aus dem Kabinett geworfen wurden und warum Suleiman das Amt des Vizepräsidenten übernahm (und in Wirklichkeit die Amtsgeschäfte führt).

Dieser Regimewechsel wird vollendet, sobald die gegen Mubarak gerichteten Strömungen innerhalb des Militärs ihre Position gefestigt haben und den Geheimdienst wie die Luftwaffe davon überzeugen, dass man den neuen Volksbewegungen und den um den Oppositionsführer Mohammed El Baradei versammelten Parteien vertrauen kann. Das wäre ein Szenario, das dem von US-Präsident Barack Obama und Außenministerin Hillary Clinton beschriebenen "geordneten Übergang" entspräche.

Welche Rolle spielt die Geschäftswelt bei der rasanten Entwicklung?

Am Montag, 31. Januar, schloss sich mit Naguib Sawiris der wohl reichste Geschäftsmann Ägyptens und das Aushängeschild der auf nationale Entwicklung setzenden Unternehmer des Landes den Demonstranten an und forderte Mubaraks Rücktritt. Im vergangenen Jahrzehnt sahen Sawiris und seine Verbündeten sich durch den extremen Liberalismus Mubaraks und seines Sohnes bedroht, die westlichen, europäischen und chinesischen Investoren den Vorzug gegenüber nationalen Geschäftsleuten gaben. Da ihre Investitionen sich mit denen der Militärs überschneiden, sind die Interessen dieser prominenten ägyptischen Geschäftsleute buchstäblich an das Land, seine Ressourcen und nationalen Erschließungsprojekte gekoppelt. Sie sind angewidert von der Korruption der Umgebung Mubaraks.

Wie haben die Gewerkschaften den Umbruch befördert?

Parallel zur Rückkehr einer mit dem Militär verbundenen und gegen die Polizei gerichteten, national oder sogar nationalistisch denkenden Geschäftswelt erlebte zuletzt auch eine sehr mächtige und breit organisierte Gewerkschaftsbewegung ihre Wiederkehr, vor allem bei der Jugend. Die Jahre 2009 und 2010 waren von landesweiten Massenstreiks, Sit-ins und weithin sichtbaren Gewerkschaftsdemonstrationen geprägt — und zwar vielfach an denselben Orten, an denen der Aufstand dieses Jahres seinen Anfang nahm. In ländlichen Gebieten protestierten die Menschen gegen staatliche Versuche, Kleinbauern von ihrem Land zu vertreiben, um die großen Ländereien wiederherzustellen, die es in osmanischer Zeit und während des britischen Kolonialregimes gegeben hatte.

2008 entstand die Hunderttausende zählende Jugendbewegung des 6. April, die einen Generalstreik organisierte. Am 30. Januar 2011 schließlich gründeten zahlreiche Gewerkschaften aus den meisten größeren Industriestädten des Landes einen unabhängigen Gewerkschaftsbund. Diese Bewegungen werden von neuen linksgerichteten Parteien organisiert, die keine Verbindung zur Muslimbruderschaft haben und auch nicht zum Nasserismus der alten Generation. Sie sind natürlich nicht gegen den Islam und fordern keine Trennung von Staat und Religion. Ihr Interesse gilt dem Schutz des produzierenden Gewerbes und der landwirtschaftlichen Kleinbetriebe in Ägypten, und ihre Forderung nach staatlichen Investitionen in die wirtschaftliche Entwicklung des Landes überschneidet sich in manchen Teilen mit den Interessen der neuen nationalkapitalistischen Allianz.

Welche weiteren Bewegungen beeinflussen maßgeblich die Entwicklung?

Hinter den Kulissen der nichtstaatlichen Organisationen und der über Facebook befeuerten Protestwellen sind also gewaltige strukturelle und ökonomische Kräfte wie auch institutionelle Umbrüche am Werk. Die Bevölkerungszahl Ägyptens wird offiziell mit 81 Millionen angegeben, doch in Wirklichkeit übersteigt sie 100 Millionen, da manche Eltern ihre Kinder nicht registrieren lassen, damit sie nicht zu Polizei oder Militär eingezogen werden. Da die ständig wachsende junge Bevölkerung heute gut organisiert ist, bekommen diese sozialen und übers Internet strukturierten Bewegungen immer größere Bedeutung.

Drei Trends lassen sich ausmachen: Eine Gruppe orientiert sich an internationalen Normen und Organisationen und neigt daher zu weltoffenen, säkularen Perspektiven und Parolen. Eine zweite Gruppe orientiert sich an der sehr aktiven und durchsetzungsfähigen Rechtskultur und den unabhängigen rechtlichen Institutionen Ägyptens. Diese starke Rechtskultur ist gewiss kein westlicher, von Menschenrechtsidealen geprägter Import. Anwälte, Richter und Millionen von Rechtsuchenden aller Schichten halten sie lebendig und können auf eine lange, ungebrochene Geschichte des Widerstands gegen autoritäre Herrschaft und des Eintretens für Rechtsansprüche aller Art zurückblicken. Eine dritte Gruppe neuer sozialer Bewegungen besteht aus einem Geflecht international ausgerichteter Nichtregierungsorganisationen (NGO's), für Rechtsstaatlichkeit eintretender Gruppen und neuer linksgerichteter, feministischer, ländlicher sowie gewerkschaftlicher Bewegungen. Die letzte Gruppe kritisiert den Universalismus und die säkulare Ausrichtung der Uno sowie der NGO's und stützt sich auf die Macht der ägyptischen Rechts- und Gewerkschaftsaktivisten, verfügt aber auch über eigene innovative Strategien und Lösungen — von denen viele in dieser Woche auf den Straßen deutlich vorgeführt wurden.

Können die Vereinten Nationen den Wandel positiv begleiten?

Ein letztes Element ist die entscheidende und oft übersehene Rolle, die Ägypten in den Vereinten Nationen und in humanitären Organisationen gespielt hat. Die Ägypter können auf eine lange Geschichte der Förderung und Unterstützung des Völkerrechts, der humanitären Normen und der Menschenrechte zurückblicken. Der ägyptische Internationalismus besteht auf die einheitliche Anwendung der Menschenrechte und des humanitären Kriegsrechts auch in Fällen, in denen eine Supermacht Druck ausübt.

In diesem Kontext wäre es durchaus sinnvoll, wenn Mohammed El Baradei, der frühere Leiter der Internationalen Atomenergiebehörde der Vereinten Nationen, eine Führungsrolle in Ägypten übernimmt — auch wenn die meisten selbstgerechten liberalen Kommentatoren die internationale Dimension des "lokalen" Aufstands in Ägypten vollständig übersehen, weil sie unter "international" nur den Westen verstehen und meinen, die Demonstranten in Ägypten ließen sich von einer Politik des Bauches leiten statt von Prinzipien.

Noch kann nichts als Übergang zur Demokratie gelten

Hosni Mubarak hat die Macht verloren. Viele seiner Getreuen sind noch im Amt. Das neue Kabinett bestand zunächst aus den Chefs des Geheimdienstes, der Luftwaffe, der Gefängnisbehörde und einem Vertreter der Internationalen Gewerkschaftsorganisation. Diese Gruppe verkörpert den harten Kern einer "Stabilitätskoalition", die versuchen wird, die Interessen des neuen Militärs, des nationalen Kapitals und der Gewerkschaften zusammenzubringen und dabei zugleich die Befürchtungen der USA zu zerstreuen.

Nichts von alledem kann jedoch als Übergang zur Demokratie gelten, bevor nicht die riesige neue Koalition der lokalen sozialen Bewegungen und der international ausgerichteten Ägypter in diesen Zirkel eindringt und darauf besteht, die Bedingungen und die Tagesordnung des Übergangs zu bestimmen.

Übersetzung: Matthias Beermann

(RP)
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