Explosive Geschichte auf dünner Quellenlage Warum die USA Seymour Hershs Behauptung über „Nord Stream 2“ mit spitzen Fingern anfassen

Washington · Vom Pulitzer-Preisträger zum Geschichten-Erzähler – Bei Seymour Hersh (85) verwischen die Grenzen zwischen Aufklärung, Spekulation und Verschwörungserzählung. Seine Thesen zur Sprengung der „Nord Stream 2“-Pipeline finden in den USA keine Abnehmer mehr.

 Im September 2022 hatte die Gaspipeline Nord Stream 2 ein Leck. Laut dem Journalisten Seymour Hersh stecke ein Sabotageakt der USA dahinter. (Archiv)

Im September 2022 hatte die Gaspipeline Nord Stream 2 ein Leck. Laut dem Journalisten Seymour Hersh stecke ein Sabotageakt der USA dahinter. (Archiv)

Foto: dpa/-

Seymour Hershs jüngste Geschichte ist sprichwörtlich explosiv. Der durch seine Berichterstattung über das Massaker von My Lai im Vietnam-Krieg 1969 zu Weltruhm gelangte Reporter behauptet darin, die „Nord Stream 2“-Gaspipeline sei von den Amerikanern gesprengt worden. Den Auftrag dazu habe kein Geringerer als der US-Präsident selbst erteilt.

Ausgeführt worden sei der von Joe Biden genehmigte und einer von Sicherheitsberater Jake Sullivan koordinierten Arbeitsgruppe ausgeheckte Geheimplan von der Navy. Diese habe die NATO-Übung „Baltops 2022“ vom Juni 2022 in der Ostsee als Cover benutzt, aus der Ferne zündbaren Sprengstoff an den Gasröhren anzubringen. Drei Monate später hätten die Amerikaner die Pipeline damit in die Luft gesprengt.

So atemlos Hersh in dem ersten Posting auf seinem neuen Blog „Substack“ über den mutmaßlichen Sabotageakt der USA berichtet, so dünn sind die Quellen, auf die sich der 85-jährige Autor stützt. Er beruft sich auf jemand „mit direkter Kenntnis der operativen Planung“. Nicht genug für seine langjährigen Auftraggeber vom New Yorker, der New York Times, der Washington Post oder der Associated Press, die allesamt kein Interesse an der Geschichte zeigten.

Dabei wären die angeblichen Enthüllungen sensationell. „Das ist kein Kinderspiel“ zitiert Hersh die einzige Quelle seiner Geschichte. Wenn der Anschlag auf die USA zurückgeführt werden könnte, „ist das eine Kriegshandlung“. Jedenfalls könnten Deutschland als Russland den Sabotageakt nach internationalem Recht so bewerten.

Während die amerikanischen Qualitätsmedien die Geschichte mit spitzen Fingern anfassten, erklärte das russische Außenministerium, die Vereinigten Staaten hätten jetzt Fragen zu ihrer Rolle bei den Explosionen vom September vergangenen Jahres zu beantworten. Sprecherin Maria Zakharova forderte die Amerikaner auf, sich zu den vorgelegten „Fakten“ zu äußern.

Das Weiße Haus hatte Hershs explosive Behauptungen zu diesem Zeitpunkt längst als „falsch und vollständig erfunden“ zurückgewiesen. Ähnlich werteten auch Sprecher des Pentagon und des Geheimdienst Central Intelligence Agency (CIA) den Blogeintrag. Während Dementis der Regierung die Relevanz investigativer Recherchen zuweilen adeln, haben diese wohl vorwiegend mit der Prominenz des Autors zu tun.

Hersh galt lange als Ikone des investigativen Journalismus in den USA. Einige seiner berühmtesten Arbeiten befassten sich mit dem Watergate-Skandal, dem Iran-Contra-Skandal, dem Golfkrieg 1991, den Folgen des Terroranschlags vom 11. September 2001 und die Misshandlung der Gefangenen von Abu Ghraib während des Irak-Kriegs. Der Enthüllungsjournalist gehörte dem Council on Foreign Relations an, lehrte an der Columbia University Graduate School of Journalism und schrieb mehr als zehn Bücher, von denen sich einige als Bestseller verkauften.

In den vergangenen Jahren büßte Hersh an Glaubwürdigkeit ein, nachdem sich einige seiner jüngeren Recherchen als fragwürdig herausgestellt hatten. Auf Kritik stießen seine investigativen Geschichten aus Syrien, die mehr russische Propaganda als die Fakten vor Ort spiegelten. Auf große Skepsis stießen auch seine steilen Thesen zum Mord an dem saudischen Regime-Gegner Jamal Khashoggi und der geheimen Kommandoaktion der Amerikaner gegen Osama bin-Laden.

Zunehmend verwischte Hersh die Grenzen zwischen harten Recherchen und Spekulationen. Ohne Ross und Reiter zu nennen, fehlt es an überprüfbaren Fakten. Zumal wenn es, wie im Fall der „Nord Stream 2“-Geschichte, nur eine einzige Quelle gibt. Und die vom Autor beschriebenen Umstände mehr Fragen zu der Seriosität der Recherche aufwerfen, als zu dem vermeidlichen Vorgehen der Regierung.

Kann es wirklich sein, dass die angebliche Entscheidung Bidens angesichts ihrer Brisanz inhaltlich zu keinem Zeitpunkt hinterfragt worden ist? Ist es realistisch, dass eine Arbeitsgruppe mit zahlreichen Vertretern aus verschiedenen Ministerin und Behörden an einer Top-geheimen Mission beteiligt waren, die auf keinen Fall herauskommen durfte? Und dass der Präsident diesen dann versehentlich bei einer Pressekonferenz ausplapperte?

Das entspricht verdächtig der Kreml-Propaganda, die hartnäckig eine Sabotage durch die USA behauptet und als Beleg dafür Präsident Biden zitiert. Der hatte vergangenen Februar an der Seite von Bundeskanzler Olaf Scholz für den Fall einer Invasion Russlands in der Ukraine damit gedroht, dass es dann „Nord Stream 2 nicht mehr geben werde. Wir werden dem ein Ende bereiten.“

Was in diesem Fall die Fakten und die Fiktion sind, lässt sich aus Hershs Erzählung nicht ableiten. Aber es erklärt, warum er in den USA kein Qualitätsmedium finden konnte, dass seine Geschichte ohne zusätzliche Quellen drucken wollte.

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