Die Feinde heißen Matsch und Frost Wie die Kälte Einfluss auf den Kriegsverlauf in der Ukraine nehmen kann
Düsseldorf/Kiew · Der einbrechende Winter wird den Krieg in der Ukraine zunehmend verlangsamen. Eine Waffenpause ist aber unwahrscheinlich. Schon Napoleon musste leidvolle Erfahrungen mit „Väterchen Frost“ machen.
„Gefrierfleisch-Orden“ nannten die deutschen Landser mit sarkastischem Humor die Medaille „Winterschlacht im Osten“. Sie wurde ihnen 1942 im Zweiten Weltkrieg „für die Bewährung im Kampf gegen den bolschewistischen Feind und den russischen Winter“ verliehen. Das Wetter als Hauptgegner ist eine Bedrohung, die jetzt auch im Krieg in der Ukraine bevorsteht – für beide Seiten. Der russische Rückzug aus der Region Cherson erfolgte mutmaßlich genau aus diesem Grund: Die umzingelten Verbände wären in dem Brückenkopf westlich des Flusses Dnepr bald isoliert und verloren gewesen.

Ein Jahr Krieg in der Ukraine
An das Grauen von Stalingrad im Jahr 1943 denkt man angesichts dieser Nachrichten. Die Einkesselung der deutschen 8. Armee kostete beide Kriegsgegner weit mehr als zwei Millionen Tote und Verwundete und brachte an der Ostfront die Wende. Aber gleich zweimal in der Geschichte hat das Wetter in der heute wieder umkämpften Region eine wichtige Rolle gespielt: Nicht nur beim Überfall der Wehrmacht, sondern auch beim Angriff von Napoleons „Großer Armee“ 1812. Sie besetzte sogar zeitweise Moskau, wurde dann aber, nicht zuletzt durch Erfrierungen und Krankheiten, fast völlig vernichtet.
Heftige Schneefälle und tiefer Frost erschweren bis heute militärische Operationen, noch hinderlicher ist jedoch die „Rasputiza“ (Russisch für „Wegelosigkeit“) in diesem unendlich weiten und meist flachen Land. Diese Schlammperiode auf dem Gebiet der Ukraine, Weißrusslands und Russlands tritt im Herbst durch starke Regenfälle und im Frühjahr durch das Tauwetter regelmäßig auf. Der Schwerpunkt liegt im Dreieck Kiew–Sankt Petersburg–Moskau: Fahrzeuge kommen nur noch auf festen Straßen voran. Die Bundeswehr musste bei ihren ersten Manövern im Baltikum die Erfahrung machen, dass ihre Radpanzer bei diesem Wetter im Gelände regelrecht am sumpfigen Boden festklebten. Weiter noch in Richtung Osten, so Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg, versanken große Kampfpanzer sogar bis zum Turm im Matsch.

Die Ukraine weint um ihre Toten
Die Zeit für schnelle Großoperationen läuft also für beide Kriegsparteien ab, wobei der Klimawandel auch in der Ukraine für milderes Wetter sorgt. Die Meteorologen erwarten schon jetzt weniger Regen, im September waren am Schwarzen Meer noch hochsommerliche 30 Grad gemessen worden. Doch vergleichbar mit NRW ist der Winter in der Ukraine trotzdem nicht: Zu Beginn des Überfalls im Februar hatte es eine Kältewelle von nachts bis zu minus 20 Grad gegeben. Für die Soldaten, die zurzeit häufig wie im Ersten Weltkrieg aus Schützengräben heraus kämpfen, ist das wechselhafte Wetter eine große Herausforderung: Erst laufen die Gräben voll, später ist der Boden so tief gefroren, dass Schanzarbeiten fast unmöglich werden. Im Herbst entlauben sich die Wälder, es gibt kaum noch natürliche Deckung. Und die Ukraine ist von ungezählten Wasserläufen mit teils hohen Steilufern durchzogen, die noch dazu kein festes Flussbett und deshalb fast unpassierbare Uferbereiche haben. Sind die normalen Übergänge zerstört, können Schwimmbrücken oder Fähren darum nicht immer eingesetzt werden. Und für Brückenlegepanzer sind viele ukrainische Gewässer zu breit.
Die Russen in der Rolle als Angreifer wie einst die Deutschen und Franzosen haben jetzt den früheren Verbündeten Wetter gegen sich, dazu die schwierige Geografie: Die Ukraine ist zweimal so groß wie Deutschland, Nachschubwege sind lang. Die Flussufer auf westlicher Seite liegen teils bis zu 50 Meter höher als auf der östlichen, was ebenfalls die Verteidiger begünstigt. Außerdem überraschen die taktischen Fehler und Ausrüstungsmängel der russischen Streitkräfte die westlichen Experten immer wieder, war doch die Rote Armee einst für den Kampf im Winter optimiert. Aber die Bilder aus der Geschichte gleichen sich: Napoleons und Hitlers Soldaten hatten keine Winterbekleidung, von hastig an die Front geworfenen russischen Rekruten wird jetzt berichtet, sie müssten auf freiem Feld campieren und schützten sich provisorisch mit Plastikplanen.
Doch die früheren Angreifer besaßen weder Satellitenaufklärung, Nachtsichtgeräte, Kampf-Drohnen oder weitreichende Raketen. Solche technischen Neuerungen, vor allem eine präzise Artillerie und eine allwetterfähige Luftwaffe, ermöglichen auch bei „Rasputiza“ Kampfhandlungen. Ist der Boden dann gefroren, können zumindest Kampf- und Schützenpanzer auf Kettenfahrgestell wieder angreifen. Eine Waffenruhe oder eine Winterpause wie in Afghanistan wird es also in der Ukraine nicht geben.
Aber wer einmal an einem Nato-Manöver im Polar-Winter Norwegens teilgenommen hat, der weiß, dass die Moral eine wichtige Rolle spielt. Ein Aufenthalt bei extremen Minusgraden oder im Dauerregen ist nur stundenweise möglich, und Truppen müssen sich an Städte und Dörfer als Basis anlehnen, um zumindest behelfsmäßigen Unterschlupf zu finden. Waffen und Gerät verschleißen deutlich schneller, die Batterien von Drohnen und Funkgeräten kapitulieren vor der Kälte, zudem lässt die körperliche Leistungsfähigkeit nach.
Unabhängig davon liegt das „Einfrieren“ des Krieges im russischen Interesse. Die mobilgemachten Soldaten müssen ausgebildet werden, es gilt, nachgeführte Waffen und Fahrzeuge aus Depots einsatzfähig zu machen. Moskau setzt deshalb offensichtlich auf die Demoralisierung der ukrainischen Bevölkerung und greift die zivile Infrastruktur bereits jetzt verstärkt mit Bomben und Raketen an.