Brasilien Die Favelas sind völlig schutzlos

Rio de Janeiro · Brasiliens Armenviertel sind nicht auf die Corona-Epidemie vorbereitet. Für die Bewohner gibt es nicht einmal Desinfektionsmittel.

 Ein Mädchen in der Favela Rocinha in Rio de Janeiro. Vom Staat haben die Slum-Bewohner in der Corona-Krise praktisch keine Hilfe zu erwarten.

Ein Mädchen in der Favela Rocinha in Rio de Janeiro. Vom Staat haben die Slum-Bewohner in der Corona-Krise praktisch keine Hilfe zu erwarten.

Foto: AP/Leo Correa

Einige nennen sie das Monster: Rio de Janeiros wohl spektakulärste Favela ist die Rocinha. Hier, in dem steil nach oben ragenden Meer aus Mauern, Dächern und Hütten, ist das alltägliche Leben auf engsten Raum zusammengepfercht. Auf den engen Straßen tobt das Leben, es unter Quarantäne zu stellen, ist eine riesige Herausforderung. „Meine größte Sorge ist, dass die Ärmsten der Armen gar keine Chance haben, sich an die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation zu halten“, sagt Fernando Luiz (37), Kulturproduzent und Aktivist aus Rio de Janeiro.

Brasiliens riesige Favelas, aber auch die anderen Armenviertel Lateinamerikas, sind der Corona-Epidemie praktisch schutzlos ausgeliefert, befürchtet Luiz. Das Gesundheitssystem in vielen Ländern ist so gut oder so schlecht, wie es der eigene Geldbeutel hergibt. Wer sich eine private Krankenversicherung leisten kann, scheint, zumindest was die medizinische Versorgung angeht, auf der sicheren Seite. Doch die ist für die Favela-Bewohner, deren alltäglicher Kampf ums Überleben schon eine echte Herausforderung ist, schlichtweg unbezahlbar.

Gilson Rodrigues, Sprecher der Favela Paraisopolis in Sao Paulo, entwarf ein Schreckensszenario: Ohne einen Plan der Regierung, der die Realität der 13 Millionen Menschen in den Slums berücksichtigt, würden die Ärmsten der Armen die größten Opfer der Pandemie. Die Regierung des rechtspopulistischen Präsidenten Jair Bolsonaro gibt aber ein klägliches Bild ab. Bolsonaro selbst sprach von einem „Grippchen“, rief die Bevölkerung auf, den Empfehlungen seines eigenen Gesundheitsministeriums nicht Folge zu leisten. Dann wieder besuchte er kleine Läden in Brasilia und forderte die Menschen auf, wieder an die Arbeit zu gehen. „Ich werde mein Volk nicht in die Armut schicken, nur um das Lob der Medien zu erhaschen“, sagte Bolsonaro.

Sein Verhalten, das den Ratschlägen führender Mediziner weltweit entgegensteht, hat ihn im eigenen Kabinett politisch isoliert. Für Bolsonaro geht es inzwischen ums politische Überleben. Abends kann er mit eigenen Ohren die Wut seiner Landsleute hören, wenn sie auf den Balkonen und bei offenen Fenstern mit Kochlöffeln auf die Kochtöpfe schlagen. Sollte die Welle Brasilien wirklich so hart treffen, wie es in einigen Szenarien vermutet wird, dann werden sich die Menschen an Bolsonaros Worte vom „Grippchen“ erinnern.

Das Coronavirus ist in Brasilien erst deutlich später angekommen als in Europa, das Land hängt der Entwicklung also einige Wochen hinterher. Auffällig ist die Prominenz der Fälle: Gleich mehrere Minister des Kabinetts von Bolsonaro sind betroffen. Die reiche Oberschicht hat offenbar problemlos Zugang zu den Tests, während in den Armenvierteln das Gesundheitssystem schon seit Jahren völlig überfordert ist. Die Entwickler der App „OTT“, die eigentlich in Echtzeit vor Schießereien warnt, gibt nun über Handy Infos über Coronavirus-Fälle bekannt. Überhaupt wächst in den Favelas die Erkenntnis, dass wohl nur Eigenhilfe das Überleben rettet. Die Organisatoren des beliebten Favela-Cups, eines Fußballturniers nur für Mannschaften aus dem Armenvierteln, sammeln inzwischen Lebensmittel und Hygenieartikel, um sie den Favelabewohnern zukommen zu lassen.

Raquel Caroline da Silva (27) Krankenhaus-Hygienefachkraft ist deshalb besorgt: „Die Putzfrauen und Haushaltshilfen, die in den reichen Vierteln arbeiten und anschließend in ihre Favelas zurückkehren, sind zu 90 Prozent afro-brasilianisch und haben erst spät oder noch gar keine Erlaubnis bekommen, ihre Arbeit einzustellen.“ Das hat Folgen: Eine Hausangestellte einer Familie aus dem reichen Süden steckte sich bei der Chefin an. Die Wohnungsbesitzerin hatte ihre Infektion offenbar verschwiegen.

Die Probleme in den Favelas sind struktureller Art, sagt Rita Montezuma (54), die an der Universität Federal Fluminense Geographie unterrichtet und sich für die Rechte der afro-brasilianischen Bevölkerung engagiert: „In den Armenvierteln gibt es praktisch keine Urbanisierung. Es fehlt an allem: sauberem Trinkwasser, zuverlässiger Energieversorgung, Infrastruktur und natürlich gut ausgestatteten Krankenhäusern.“ Vor der WM 2014 gingen die Menschen zu Hunderttausenden auf die Straße, um gegen die katastrophalen Bedigungen im Gesundheitswesen zu demonstrieren. Doch die damalige Links-Regierung von Präsidentin Dilma Rousseff investierte lieber in sündhaft teure Stadien als in Krankenhäuser. Seitdem hat sich nichts geändert. Im Gegenteil: Bolsonaro kürzte sogar die Ausgaben, kündigte nun aber unter dem Druck der Krise Investitionen an. Doch selbst wenn diese kommen sollten, kämen sie für die Patienten, die jetzt schwer erkranken, zu spät.

Während sich das reiche Europa und die USA ein Wettbieten um Atemschutzmasken auf dem Weltmarkt liefern, ahnen sie in der Rocinha oder anderen Favelas, dass sie wieder mal ganz alleine auf sich gestellt sein werden. Es wird nicht nur bei den gesundheitlichen Problemen bleiben, denn viele Menschen in den Favelas arbeiten im sogenannten informellen Sektor, haben keinerlei finanzielle Rücklagen und leben von der Hand in den Mund. Die aktuellen Ausgangsbeschränkungen, von Bolsonaro kritisiert, von seiner Regierung aber befürwortet und regionalen und lokalen Politikern durchgesetzt, bedeuten für sie eine wirtschaftliche Katastrophe. „Viele der in den Armenvierteln lebenden Menschen können es einfach nicht verkraften, ein, zwei Wochen ohne Einnahmen zu sein“, sagt Montezuma. Die Regierung stellt ihnen eine Sofort-Hilfe in Aussicht, doch schon jetzt zu Beginn der Krise steigen die Lebensmittelpreise, beginnen die Verteilungskämpfe. Und ob und wie das Geld ankommt, das aus Brasilia versprochen wird, ist unklar.

Fernando Luiz kann das aus eigener Erfahrung bestätigen: „In dieser Woche musste ich Desinfektionsmittel für 22 Reales kaufen, aber ich habe auch schon Preise von 25 bis 30 gesehen.“ Das sind umgerechnet etwa vier Euro – damit ist für viele Favela-Bewohner schon das gesamte Tagesbudget ausgegeben. „Ich befürchte, dass all die, die sich selbst einfachste Schutzmaßnahmen nicht leisten können, einfach außerhalb des Systems sich selbst überlassen bleiben.“

So ganz langsam kommt die Krise auch in den Köpfen der Menschen an. Die weltberühmten Strände Copacabana oder Ipanema sind inzwischen trotz Sonnenscheins fast menschenleer. Dort, wo normalerweise Inline-Skater, Biker oder Jogger entlang der Avenida Atlantica flanieren, herrscht gähnende Leere.

Fernando Luiz hat seine eigenen Maßnahmen schon getroffen: „Ich habe alle Veranstaltungen abgesagt.” Für den Kulturschaffenden ist das eine schwere Entscheidung. „Die Leute haben Angst, wenn wir das alles absagen. Wovon sollen die Menschen, die in dieser Branche arbeiten, denn leben? Diese Leute leben vom Kontakt mit dem Publikum.”

Unterdessen versucht sich das Gesundheitsministerium von Rio de Janeiro auf das Schlimmste vorzubereiten. „Wir brauchen Freiwillige”, wird über die sozialen Netzwerke aufgerufen. „Wir brauchen Medizinstudenten sowie Profis mit abgeschlossener Ausbildung.” Es ist der Versuch, alle Kräfte aufzubieten. Mehr können sie nicht tun. Außer beten.

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