Israel Die Fahrt

Ahmad, ein Schäfer aus dem Jordantal, hat Leukämie. Ohne den pensionierten Klempner Noam aus Jerusalem wäre seine Behandlung nicht möglich. Seit vier Monaten sitzen die beiden Männer jeden zweiten Tag zusammen im Stau und erzählen einander vom Leben.

 Nach der Behandlung kehrt Ahmat hinter die Mauer zurück ins Westjordanland.

Nach der Behandlung kehrt Ahmat hinter die Mauer zurück ins Westjordanland.

Foto: Franziska Grillmeier

Noam überholt das Auto vor ihm auf dem rechten Seitenstreifen, kurbelt das Fenster herunter und schreit: „Haben Sie es eilig?“ „Ja!“ brüllt der Fahrer zurück und schließt zu seinem Vordermann auf. Beide Autos stehen in der Mittagssonne flimmernd nebeneinander, bis die Ampel auf Grün springt. „Wenn diese Stadt nicht durch seine Menschen erstickt, dann am Stau“ sagt Noam, zündet sich eine Zigarette an und fährt sich mit seiner breiten Hand über den Hinterkopf. Es ist 13:23 Uhr.

„Ahmad wartet jetzt schon bestimmt zwei Stunden in der Hitze“ sagt Noam, drückt die Zigarette am Fenstergummi aus und schraubt am Radio. „Aber das tut er ja sein ganzes Leben schon“.

Eine halbe Stunde später zieht er die Handbremse auf dem Behindertenparkplatz des Hadassa-Krankenhauses auf dem Skopusberg in Ostjerusalem an. Ein Sicherheitsbeamter schielt ins Auto. Noam hält einen blauen Wisch ans Fenster, mit dem er überall auf dem Gelände parken darf. Er ist bis September gültig. So lange soll die Behandlung von Ahmad dauern.

Der junge Beduine sitzt schon mit einer Fleece-Mütze vor dem Krankenhauseingang. Hinter ihm ragt eine Reihe beschlagener Fensterreihen bis zum Himmel hinauf. Er steigt schnaufend ein.

„Ich bekomme hier nur die israelischen Sender rein“ sagt Noam. „Lass sie laufen“, antwortet Ahmad, „es ist ja nicht die Musik, die hier verrücktspielt“. Er dreht seinen Rücken zum Fenster. Für drei Monate darf er nicht mehr in die Sonne. „Ist dir nicht verdammt heiß in deinem Wintermantel?“, fragt ihn Noam. Als er den Motor startet fängt die alte Klimaanlage an zu rauschen. „Ich saß mein Leben lang noch nie vor einer Klimaanlage“, sagt Ahmad.„Was denkst denn du?“

Ahmad, 27, ein Beduine aus dem Jordantal, war vor seiner Leukämieerkrankung noch nie auf der anderen Seite der 700 Kilometer langen Betonmauer, die Israel um die 2,8 Millionen Menschen im Westjordanland gezogen hat – als Reaktion auf palästinensische Selbstmordattentate. Diese Mauer schneidet die Dörfer der Palästinenser entzwei, schneidet ihnen ihre gewohnten Wege ab und rückt gleichzeitig jüdische Siedlungen im Westjordanland näher an Israel heran. Als Schäfer trieb Ahmad Ziegen durch die Hirtengemeinde Khirbet Um al Jamal. Zur Schule ist er nie gegangen.

Noam, 66, ehemaliger Klempner in Jerusalem, ist seit einem Jahr in Rente und in einer jüdisch-irakischen Familie in Jerusalem aufgewachsen. Seit vier Monaten fährt er jeden zweiten Tag zum Grenzübergang Qalandia und wartet auf Ahmad, der mit dem Taxi aus dem Jordantal jenseits der Mauer angereist kommt. Unbeeindruckt davon, ob in Gaza ein neuer Krieg droht, Israel den Eurovision Song Contest gewinnt oder Ahmads Zelt wieder einmal kurz vor dem Abriss steht: Ahmad muss zur Strahlentherapie nach Jerusalem. 18 Kilometer. Drei Passkontrollen. Vier Stunden.

Die Ärzte in Nablus wollten Ahmad schon vor Monaten in ein israelisches Krankenhaus nach Jerusalem verlegen. Er brauche dringend eine Strahlentherapie, doch die ist in den palästinensischen Gebieten seit der zweiten Intifada aus Sicherheitsgründen verboten. Als Palästinenser braucht Ahmad daher eine Genehmigung, um auf israelischem Gebiet behandelt zu werden. Überhaupt ist es eine der wenigen Möglichkeiten, durch die heilige Stadt zu fahren. Ahmads Antrag ist einer von jährlich 200.000 aus dem Westjordanland und Gaza, die durch die israelischen Behörden autorisiert werden müssen. Bearbeitungsdauer: mindestens 55 Tage. Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO werden etwa 40.000 Anträge jährlich abgelehnt.

Ahmad füllte zwei Monate lang Anträge aus. Klingelte Sturm beim Gesundheitsamt der palästinensischen Behörde, schaute weißen Kitteln in Wartezimmern nach, ließ sich von einer überlasteten Krankenschwester zum dritten Mal in einer Woche Blut abnehmen, schlief auf dem Weg nach Hause vor Erschöpfung im Bus ein. Er zog zu seiner Schwester in die Kleinstadt Tubas, 17 Kilometer entfernt von seinem Beduinenzelt. Hier gab es einen Kühlschrank, in dem er seine Medikamente lagern konnte. Damals konnte Ahmad schon fast nicht mehr aufstehen. Sein Körper war aufgrund der schlechten Blutzirkulation geschwollen. Bis im Januar die Bestätigung aus dem Hadassah Krankenhaus in Jerusalem kam.

„Die Behandlung war gut heute“, sagt Ahmad, neben Noam im Auto sitzend. Nächste Woche soll er wieder eine Rückenmarktransplantation bekommen. „Hast du deine Medikamente?“, fragt Noam. „Hinten im Kofferraum.“ Es ist das letzte Mal, dass ihm die Krankenschwester ein paar Flaschen zustecken konnte. Wie es nächste Woche weitergehen soll, weiß er nicht. 2400 Schekel, etwa 600 Euro pro Packung, sind mehr, als seine ganze Familie mit den Ziegen im Monat erwirtschaften kann. Bis vor zwei Wochen bezahlte noch das palästinensische Gesundheitsministerium seine Rechnungen. Dann teilten sie ihm mit, seine Behandlung sei außergewöhnlich teuer. Und ihr Etat sei erschöpft.

Nach dem Oslo-Abkommen von 1994 übertrugen die israelischen Behörden die Verantwortung für die Bewohner des Westjordanlandes an die palästinensische Autonomiebehörde. Sie ist auch für die Gesundheitsversorgung der Palästinenser zuständig. Israel bezahlt nur für die Behandlung israelischer Staatsbürger. Palästinenser müssen für die Behandlung in Israel selbst aufkommen. Oft übernehmen die palästinensischen Behörden die Kosten. Doch ihnen fehlt es an Infrastruktur, um die Anträge effizient zu koordinieren, und an Geld. Laut einem Bericht der israelischen Nichtregierungsorganisation„Physicians for Human Rights“ stehen der palästinensischen Autonomiebehörde etwa 210 Euro pro Patient im Jahr zur Verfügung. In Israel sind es 1730 Euro. Über 20 Jahre nach dem Oslo-Abkommen weiß jeder Bewohner im Westjordanland und in Gaza, wie abhängig er noch immer vom israelischen Gesundheitssystem ist. Viele Behandlungen sind, wie in Ahmads Fall, im Westjordanland nicht möglich. Manche Medikamente sind nur auf israelischem Gebiet zu bekommen. Es fehlt an Ärzten und in den Schubladen der Behandlungszimmer an den einfachsten medizinischen Hilfsgütern– wie Handschuhen oder Desinfektionsmittel.

Als Ahmad das erste Mal das Hadassah Krankenhaus in Jerusalem betrat, behielten ihn die Ärzte für zwei Monate. Noam kam ihn jede Woche im Krankenhaus besuchen. Er brachte ihm Artischockenblumen von Ahmads Mutter mit, die keine Erlaubnis bekam, ihn in Jerusalem zu besuchen. Und ein Tablet, mit dem Ahmad Musik hören konnte und auf dem er zum ersten Mal in seinem Leben ein halbes Buch las. Im März kamen weitere 23 Tage hinzu. In dieser Zeit bekam er eine Knochenmarktransplantation, lag täglich unter Röntgengeräten und verlor all seine Haare bei der Strahlentherapie. Das Krankenhausgelände verließ er in dieser Zeit nicht. Seine Aufenthaltsgenehmigung reichte nur bis zum Parkplatz.

Im April hatten die Ärzte gute Neuigkeiten: er brauche nur noch alle zwei Tage zur Kontrolle kommen. Er bekam Panik. Wie sollte er die stundenlange Fahrt jeden zweiten Tag nach Jerusalem schaffen? Es waren nicht die Grenzkontrollen, die Befragung von Sicherheitsdiensten und die stete Gefahr, wieder zurückgeschickt zu werden, die ihn sorgten: Ahmad wusste ganz einfach nicht, wie er den Transport bezahlen sollte. Busse fahren nur unregelmäßig nach Qalandia. Der Sommer kam und er durfte nicht in die Sonne. Und die Fahrt im Taxi kostet 150 Schekel, etwa 35 Euro, bis zum Grenzübergang Qalandia, und weitere 100 Schekel bis zum Krankenhaus. 500 Schekel an einem Tag. Dann machte ihm Noam ein Angebot.

Ahmad schaut Noam belustigt an. „Dein Dialekt ist wirklich ein Mix aus Hebräisch und Irakisch“ sagt er.„Ich bin immer noch ein kurdischer Jude“ sagt Noam. „Ach was, du bist schon lange einer von uns“ antwortet Ahmad. Noam gluckst. Um 14:53 Uhr, etwa eineinhalb Stunden später, erreichen die beiden die Stadtgrenze von Jerusalem. Sanfte Hügelzüge geben den Blick auf das verlassene arabische Dorf Lifta frei, das seit der Staatsgründung Israels 1948 zum Mahnmal der „Nakba“, arabisch für Katastrophe, für die Palästinenser wurde. In den 1950er Jahren in Jerusalem geboren, hat Noam die rasante Veränderung der Landschaft gesehen. Und die in den Menschen. Vor fünf Jahren öffnete er zusammen mit seinem Neffen eine kleine Firma. Zwei Jahre später starb der Neffe mit nur 35 an Leukämie. Für Noam ein Verlust, als hätte er seinen Sohn verloren.

In seiner freien Zeit reiste Noam immer wieder ins Jordantal. Nach dem Bau der Mauer konnten sich viele beduinische Hirten nicht mehr frei bewegen. Auch in Ahmads Zeltdorf Khirbet Um al-Jamal stehen nur mehr ein paar vereinzelte Zelte, eingeklemmt zwischen jüdischen Siedlungen, auf militärischem Sperrgebiet. Als Noam einmal bei Ahmads Mutter ein halbes Kilo Salzkäse kaufte, erzählte ihm die Mutter von der Situation ihres kranken Sohnes.

Noam beschloss, Ahmad im Krankenhaus in Jerusalem zu besuchen. Und später beschloss er, mit ihm zusammen im Stau zu stehen. Ahmad solle es schließlich nicht wie seinem Neffen ergehen, „nur, weil wir eine Mauer um sein Zelt gebaut haben“. Und außerdem habe er Zeit, als Rentner.

Einmal kam Ahmad nicht über die Grenze. Noam wartete wie immer auf der anderen Seite der Sperranlage auf ihn. Als Ahmad ihn anrief und erzählte, die Soldaten ließen ihn trotz Genehmigung nicht durch, verlor Noam die Geduld. Er stieg aus dem Auto und schrie die Soldaten am Checkpoint an, sie sollten Ahmad durchlassen. Er habe schließlich eine wichtige Behandlung in Jerusalem vor sich. Kurz danach saß Noam auf der Polizeistation. Sie mussten den Termin verschieben.

 Viel Zeit verbringen Noam und Ahmat im Auto mit Warten. Die Staus vor den Checkpoints sind berüchtigt. Drei davon müssen sie passieren.

Viel Zeit verbringen Noam und Ahmat im Auto mit Warten. Die Staus vor den Checkpoints sind berüchtigt. Drei davon müssen sie passieren.

Foto: Franziska Grillmeier
 Der Sperrwall, den Israel zum Schutz vor palästinensischen Anschlägen errichtet hat, ist 700 Kilometer lang und streng bewacht.

Der Sperrwall, den Israel zum Schutz vor palästinensischen Anschlägen errichtet hat, ist 700 Kilometer lang und streng bewacht.

Foto: Franziska Grillmeier

Um 16:23 Uhr erreichen Noam und Ahmad den Checkpoint. Noam stellt sich quer auf den Bordstein. Ahmad öffnet den Kofferraum und hebt vorsichtig seine Sporttasche mit den Glasflaschen voller Medizin heraus. Noam raucht auf seinen Skistock gestützt eine Zigarette. Der Schweiß steht ihm auf der Stirn. Er wird nicht mit zum Drehkreuz gehen. So wenig Aufsehen erregen wie möglich. „Bis Morgen“ sagt Noam. Ahmad schultert die Tasche. Es klimpert. „Salamat“. Das Drehkreuz knackt und bewegt sich träge durch die schwere Nachmittagshitze. Ahmad dreht sich noch einmal um und winkt. Sein Lachen ragt über dem Mundschutz hinaus. Noam bleibt im Auto sitzen, bis er hinter der Absperrung verschwunden ist.

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