USA Rückkehr in ein verändertes Land

Unser Washington-Korrespondent hatte die USA für einige Wochen verlassen. Wieder zu Hause, fand er eine Hauptstadt vor, die vom Virus gezeichnet war. Mit der Corona-Krise hat das vermeintlich unerschütterliche Selbstbewusstsein der Amerikaner einen Knacks bekommen.

 „Gott schütze Amerika“ – Schriftzug an einem wegen Corona geschlossenen Laden.  Foto: dpa

„Gott schütze Amerika“ – Schriftzug an einem wegen Corona geschlossenen Laden. Foto: dpa

Foto: dpa/Matt Rourke

Mit Helden hatten sie es hier schon immer. Freitags konnte man sich darauf verlassen, dass in den Abendnachrichten von ABC, einem der großen Fernsehsender, ein „hero of the week“ vorgestellt würde. Mal war es der Pilot eines Hubschraubers, dessen Besatzung nach einem Hurrikan Menschen zu Hilfe kam, die sich auf die Dächer ihrer überfluteten Häuser gerettet hatten. Mal war es der Lehrer, der eine querschnittsgelähmte Viertklässlerin huckepack trug, damit sie an einer Klassenfahrt, einer Wanderung durch eine Felslandschaft, teilnehmen konnte. Mal war es der Enkel, der mit seiner 85-jährigen Oma von Nationalpark zu Nationalpark fuhr, auf dass sie auf ihre alten Tage die Naturwunder Amerikas kennenlerne und zum ersten Mal in einem Zelt übernachte. In der Epidemie aber hat das mit den Helden inflationäre Ausmaße angenommen, auch im Stadtbild von Washington.

 „Hier arbeiten Helden“, steht in blauen und roten Lettern vor einer Arztpraxis. „Helden tragen Orange“, grüßt es auf einem bettlakengroßen Spruchband vom Balkon eines Altersheims, das zu einer Kette namens Sunrise gehört, in deren Firmenlogo eine orangerote Sonne aufgeht. So aufgesetzt das auf Außenstehende wirken mag, hier gehört es zum Pflichtprogramm, erst recht in einer Krise. So wie auch auf Danksagungen gesteigerter Wert gelegt wird. Man dankt, den Spruch habe ich neulich an einer Autoheckscheibe gesehen, den Lehrern einer bestimmten Grundschule für ihre Arbeit, auch wenn hier vorerst nur an virtuellen Unterricht zu denken ist. Man dankt den Taxifahrern, den Briefträgern, den Paketboten, den Kassiererinnen, den zumeist jungen Einkäufern, die mithilfe einer App namens Instacart Älteren, die sich nicht in einen Supermarkt trauen, die Lebensmittel an die Wohnungstür bringen. „Thank you, truck drivers, doctors, nurses“, ist auf einer Sperrholzplatte in meiner Straße zu lesen. Wenigstens die amerikanische Höflichkeit, die sich so wohltuend unterscheidet vom ruppigen Alltagston mancher mitteleuropäischen Großstadt, scheint auch in der Pandemie keinen Schaden genommen zu haben.

Ich bin seit knapp fünf Wochen wieder in Washington, nachdem ich aus familiären Gründen nach Berlin musste und mir retour nichts anderes übrig blieb, als den Umweg über ein Land zu nehmen, das nicht im Schengenraum liegt. Nicht in jenem Teil Europas, den Donald Trump als epidemiologisch so gefährlich einstuft, dass er Menschen, die sich in den 14 Tagen vor dem Flug in die USA dort aufgehalten haben, die Einreise verwehrt.

Also verbrachte ich zwei Wochen in Istanbul und flog von dort nach Washington weiter. Auch Toronto oder Montreal wären als Zwischenstationen denkbar gewesen, doch die Kanadier wollten, so ließ es mich deren Botschaft wissen, eine Begründung, warum mein Aufenthalt dort im nationalen Interesse Kanadas liegt. Weil ich dies nicht wirklich begründen konnte, weil mir Mexiko, eine weitere potenzielle Variante, mit Blick auf die Fallzahlen als zu riskant erschien, wählte ich die Bosporus-Route in Richtung Washington. Wo mich eine Grenzbeamtin am Dulles-Flughafen übrigens mit einem netten „You’ve made it“ verabschiedete, nachdem sie meinen Pass gestempelt und die imaginäre Schranke geöffnet hatte. „Sie haben es geschafft“: Es klang so aufmunternd, dass man sich wirklich, was an amerikanischen Grenzschaltern nicht immer der Fall ist, willkommen geheißen fühlte.

Was ich seither erlebe, ist eine Stadt in der Krise, was sich weder von Berlin noch von Istanbul sagen lässt, jedenfalls nicht nach dem äußeren Schein. Es ist eine Nation in einer Phase ungewohnter Verunsicherung, in die sich sogar der eine oder andere Selbstzweifel mischt.

Normalerweise ist dieser Koloss mit seinen kontinentalen Ausmaßen hinreichend mit sich selbst beschäftigt, sodass er den Rest der Welt nur als Nebenschauplatz wahrnimmt, meist als mehr oder weniger bedauernswertes Kontrastprogramm zur eigenen Erfolgsgeschichte. In normalen Zeiten würden wohl nicht nur Trump-Wähler zustimmen, wenn der Präsident ins Schwärmen gerät: „Wir sind das großartigste, außergewöhnlichste, rechtschaffenste Land in der Geschichte des Planeten“. Mit der Coronakrise aber hat das vermeintlich unerschütterliche Selbstbewusstsein einen Knacks bekommen. Ich weiß nicht, für wie lange. Gut möglich, dass man schon bald zurückkehrt zur Grundüberzeugung, nach der niemand Amerika das Wasser reichen kann. Aber zumindest für den Moment sind leise Töne zu hören. Laut einer Umfrage der Marktforscher von Ipsos glauben mittlerweile zwei Drittel der Bürger, dass andere Staaten bessere Antworten auf das Virus gefunden haben als der eigene.

Die neue Nachdenklichkeit, sie lässt sich schon bei „Politics & Prose“ erkennen, einer unabhängigen Buchhandlung, die nach dreimonatiger Pause wieder Kunden hineinlässt. Im Regal mit den Bestsellern steht „America through Foreign Eyes“, ein Buch von Jorge Castaneda, der einst der Außenminister Mexikos war, aber auch jahrelang in New York an einer Uni unterrichtete. Ein Blick durch die Brille eines Ausländers, eigentlich wäre so etwas ein Ladenhüter, im Augenblick scheint es einen Nerv zu treffen. Das einst so leuchtende amerikanische Vorbild für den Rest der Welt verliere in rasantem Tempo an Glanz, schreibt Castaneda. Was den Politikstil des Weißen Hauses angehe, so lasse es zunehmend an lateinamerikanische Problemzonen mit autoritären Führungsfiguren denken.

Die „Washington Post“ hat Richard Horton befragt, den Chefredakteur von „The Lancet“, einer in London herausgegebenen Fachzeitschrift für Ärzte. Keine andere Nation, gestand Horton den USA zu, verfüge über eine vergleichbare Konzentration an Forschung, an technischem Know-how, an Spitzenmedizin. Doch ausgerechnet diese Supermacht der Wissenschaft sei kläglich gescheitert an der Aufgabe, ihre Expertise in eine vernünftige politische Antwort auf die Pandemie münden zu lassen. „Warum?“, fragte der Brite und gab eine Antwort, die ich von allen bisherigen Erklärungsversuchen für den überzeugendsten halte. Amerika, sagt er, könne manchmal ziemlich engstirnig sein. „Ich glaube, die Tatsache, dass sich Amerika als das großartigste Land der Erde versteht, bedeutet, dass es sich für unfehlbar hält.“ Deshalb habe man lange nicht ernst genommen, was andere zum Thema Covid-19 an Erkenntnissen gewonnen hätten. Deshalb habe man es offenbar nicht für nötig gehalten, von anderen zu lernen.

Michael Osterholm, Virologe an der University of Minnesota, beklagt nicht nur das einerseits exorbitant teure, andererseits chronisch ineffiziente Gesundheitssystem, er nimmt auch die Annahme aufs Korn, dass sich mit Geld alles regeln ließe. „Wir sind ein reiches Land, weshalb wir glauben, jede Infektionskrankheit allein aus diesem Grund stoppen zu können. Aber Dollarscheine sind kein ebenbürtiger Gegner für ein Virus.“

Roger Cohen, ein Kolumnist der „New York Times“, ging neulich so weit, die Vereinigten Staaten mit dem Libanon zu vergleichen. So wie sektiererische Politikfürsten in Beirut vernünftiges Regieren unmöglich machten, verhinderten die Kulturkriege Amerikas, etwa der zwischen Maskenträgern und maskenlosen Corona-Leugnern, eine kohärente Antwort auf die Seuche.

In meiner Nachbarschaft lässt ein Wahlposter, an dünnen Eisenstangen in den Vorgarten eines Hauses gepflanzt, auf eine gewisse Verzweiflung der Bewohner schließen. „Any functioning adult – 2020“, ist darauf zu lesen. Kein Name, auch nicht der von Joe Biden, Trumps Widersacher. Nur der sehnliche Wunsch, dass der Mann im höchsten Staatsamt, frei übersetzt, seiner Sinne mächtig sein möge. Über die Stimmung in den Weiten der Provinz sagt der plakatierte Sarkasmus freilich nichts, denn Washington DC, wo Donald Trump 2016 gerade mal vier Prozent der Stimmen erhielt ist bekanntlich, wahlpolitisch gesehen, eine Insel.

 „Jeder funktionsfähige Erwachsene“ – sarkastischer Kandidatenwunsch eines Trump überdrüssigen Wählers in Washington DC.

„Jeder funktionsfähige Erwachsene“ – sarkastischer Kandidatenwunsch eines Trump überdrüssigen Wählers in Washington DC.

Foto: RP/Frank Herrmann
  Frank Herrmann berichtet seit 2007 für unsere Zeitung aus den USA.

 Frank Herrmann berichtet seit 2007 für unsere Zeitung aus den USA.

Foto: Frank Herrmann/Privat

Und auch von Kulturkriegen ist in der Hauptstadt nur wenig zu spüren. Man hat nicht den Eindruck, als wäre es eine Frage der Weltanschauung, sich ein Stück Stoff vor Mund und Nase zu binden. Die meisten tun es so selbstverständlich, wie sie auf Abstandsregeln achten, nicht nur im Supermarkt oder der Shopping-Mall, sondern auch auf der Straße. Allein schon die Corona-Statistik, die täglich aufs Neue deprimiert, zwingen zur Disziplin. Auch für die Aufforderung zum Maskentragen gibt es übrigens, wie könnte es anders sein, Formeln, die dem lokalen Höflichkeitsgebot entsprechen. Etwa diese: „When in public space, hide that beautiful face.“

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