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Iran-Krise Das riskante Kalkül der Kurden

Erbil · Die Iran-Krise wirft ihren Schatten auf den Irak. Einige Kurden träumen davon, an der Seite der USA die Unabhängigkeit zu erlangen.

Von Cedric Rehman

Der Berg schmiegt sich an die Ebene wie ein Riese, der sich müde von der Hitze auf dem Boden ausstreckt. Die Autobahn führt von Erbil, der Hauptstadt der kurdischen Autonomieregion im Nordirak, ohne Umweg zum Qarachogh an der Grenze zum arabischen Teil des Irak. Weil die Umgebung ringsherum so flach ist, taucht der Berg bereits in einiger Entfernung im Blickfeld auf. Der Qarachogh erscheint mit jedem zurückgelegten Kilometer mächtiger. Rauchwolken steigen rund um den Berg in den Himmel. Die Erde ist schwarz verbrannt. Eine Zementfabrik rostet von allen Menschen verlassen am Fuß des Qarachogh vor sich hin. Dann gibt es nur noch die Asphaltschlange, die sich hinauf in die Höhe des Gebirges windet. Sie erinnert daran, dass hier nicht immer ein totes Land war.

Ein Militärposten taucht hinter Sandsäcken in einer Kurve auf. Ein Kämpfer der Peschmerga, der bewaffneten Kräfte der autonomen Kurdenregion, winkt das Auto durch ein Tor hinein in die Festung der Kurden. Seine Kameraden dösen im Schatten. Wir sind im Fastenmonat Ramadan, die beste Ausrede, einen heißen Tag zu verschlafen. Oberstleutnant Abdullah Mutadib reibt sich den Schlaf aus den Augen. Er empfängt seine Gäste auf einer Matte. Neben ihm sitzen Khoshnaw Azad, ein weiterer Peschmerga, und Hamid Mohamed vom kurdischen Geheimdienst Asayis.

Seit April sind die beiden Militärs und der Geheimdienstoffizier in einer wenig komfortablen Lage. Der eigentlich schon besiegt geglaubte Islamische Staat (IS) hat sich mit 200 bis 600 Kämpfern in dem Gebirgsmassiv festgesetzt und verfolgt von dort aus Nacht für Nacht in der Umgebung eine Strategie der verbrannten Erde. Sobald der Morgen dämmert, verschwinden die Kämpfer wieder in ihren Höhlen.

Auf der anderen Seite des Bergs sind die Haschd asch-Schabi auf der irakischen Seite der Demarkationslinie zur autonomen Kurdenregion stationiert. Die irakischen „Volksmobilmachungskräfte“, 2014 als Reaktion auf den IS vom schiitischen Großajatollah Ali al Sistani gegründet, haben derzeit noch ganz andere Sorgen als die Widerstandsnester der Dschihadisten. Seit Beginn der Krise zwischen den USA und dem Iran vor einigen Wochen stehen sich die Amerikaner im Irak und die pro-iranischen Haschd asch-Schabi als mögliche Feinde gegenüber. Das ist die Lage: Die Amerikaner und die mit ihnen verbündeten Kurden auf der einen Seite, die Haschd asch-Schabi auf der anderen Seite, und mittendrin gibt es mit dem Berg nun ein perfektes Versteck für den IS.

Oberstleutnant Abdullah Mutadib stellt klar, dass es so gut wie nie Absprachen zwischen den Peschmerga und den schiitischen Verbänden gebe. Die Peschmerga sehen sich als Teil der westlichen Allianz gegen den IS. Sie wollen mit den Schiiten nichts zu tun haben, und am Ende kämpft jeder für sich allein. Khoshnaw Azad nennt die Haschd asch-Schabi sogar „das andere Gesicht des Terrorismus“ im Irak. Die Milizen am Qarachogh erhielten ihre Befehle direkt von Irans Revolutionsgarden, sagt er. Für einen erfolgreichen Kampf gegen den IS gebe es viel Wichtigeres als die Zusammenarbeit mit den Schiiten im Irak, meint der Geheimdienstler Hamid Mohamed: „Wir danken den Deutschen, dass sie das Training unserer Kämpfer in Erbil wieder aufgenommen haben“, sagt Mohamed.

Die Bundesregierung hatte Mitte Mai die Ausbildung für die Peschmerga in Erbil aufgrund der Spannungen in der Region kurzzeitig ausgesetzt. Mittlerweile geht die Ausbildung weiter. Und die Peschmerga verdanken den Deutschen mehr als bloß Training: Modernste Panzerabwehrraketen vom Typ Milan etwa, die Deutschland neben vielen anderen Rüstungsgütern an die Kurden geliefert hat, machten aus einer für ihren Kampfgeist gerühmten Guerillatruppe eine Armee, die sich messen kann mit anderen in der Region.

Vielleicht beginnen die goldenen Zeiten für die Peschmerga aber erst noch, wenn die USA sie als Verbündete gegen Teheran entdecken. Auf die Frage, ob die Spannungen zwischen den USA und Iran nicht Anlass zur Sorge böten, antwortet Oberstleutnant Mutadib gelassen. „Die autonome Kurdenregion ist neutral“, meint er. Sollten die Haschd asch-Schabi aber Neutralität mit Gleichgültigkeit verwechseln und amerikanische Einrichtungen in den Autonomiegebieten attackieren, würden sie nicht nur den Zorn der Peschmerga zu spüren zu bekommen. „Niemand wird ohne Strafe unsere Alliierten auf unserem Territorium angreifen. Zur Not werden auch die Zivilisten jede US-Einrichtung verteidigen“, verspricht er.

Gühende Liebesschwüre auf Amerika haben wohl eher Seltenheitswert im Mittleren Osten. Aber natürlich hat das alles einen Grund. 2017 war das kurdische Unabhängigkeitsreferendum auch deswegen gescheitert, weil die USA sich nicht dahinter stellen wollten. Der Iran wiederum unterstützte irakische schiitische Verbände dabei, die Kurden aus einigen umstrittenen Gebieten zu vertreiben. In Kirkuk, das „kurdische Jerusalem“ genannt, weht seit dem Herbst 2017 wieder die irakische Flagge. Das schmerzt. „Ich glaube, dass Amerika seine Meinung ändert, wenn wir treue Verbündete sind“, meint der Geheimdienstoffizier Mohamed. Und er fügt gut gelaunt hinzu: „Die Schiiten im Irak haben ihren Iran. Aber unser Iran ist der Westen.“

Auf dem Weg ins Tal verfinstert sich der Himmel. Eine Rauchwolke türmt sich auf. Es muss ein großer Brand sein, der den Horizont mit Qualm bedeckt. Der Berg, der den Gotteskriegern als Versteck dient, liegt in einiger Entfernung. Sind die IS-Kämpfer in der Nacht so weit vorgedrungen und haben ein derart großes Feuer gelegt? Der Qualm hängt träge über dem Land und verrät es nicht. Jenseits der niedergebrannten Äcker beginnt unvermittelt das Grün. Ein Fischteich taucht auf. Im Dorf Kapanikrash herrscht Stille. Nur ein Schäfer treibt seine Herde durch den Weiher. An einem Haus hält ein Humvee-Geländewagen der Peschmerga.

Bürgermeister Sharif Kareem Ahmed führt seine Gäste in den mit Teppichen und Kissen ausgelegten Empfangsraum seines Hauses. Ein Gewehr hängt an der Wand. Der 72-Jährige ist so etwas wie ein Wehrbauer gegen den arabisch-sunnitischen IS. Er hat sich als Einziger seines Dorfes dagegen entschieden, vor dem IS zu fliehen. Da er auch Familienoberhaupt ist, blieb auch die Verwandtschaft im Dorf, um etwa die Schafe der Familie zu hüten. So erklärt es sich, dass inmitten des IS-Gebiets etwas Leben blieb.

Der Bürgermeister lässt trotz Ramadan auftischen. Frische Tomaten und Gurken aus den Gärten, die seine Söhne in der Nacht bewachen. Omelett aus Eiern, die der IS nicht samt den Hühnern gestohlen hat. Der Hof ist nach Einbruch der Dunkelheit im Belagerungszustand. Die Söhne und Enkel des Bürgermeisters patrouillieren Nacht für Nacht an den Zäunen der Felder. Ahmed erinnert sich, wann der Albtraum in dem kurdischen Dorf begonnen hat. „Es war im April, da war das erste Feld am Morgen schwarz“, sagt er. Seitdem sei keine Nacht vergangen, in der es keine Überfälle gegeben habe, erzählt Ahmed. „Sie kommen in der Dunkelheit und fordern Tribut. Ansonsten zünden sie die Äcker an“, sagt er. Menschen aus den Nachbardörfern seien verschwunden, als sie Trüffel in den Bergen sammelten. „Es wurde Lösegeld gezahlt“, sagt Ahmed.

Er will durchhalten, solange es geht. „Ich bin der letzte Bürgermeister in der Region und der einzige, der mit seiner Familie noch die Felder im Dorf bewirtschaftet“, sagt er. Gehe auch er, dann verwandele sich noch mehr Land in Asche. Der Bürgermeister glaubt nicht, dass ein Krieg der Amerikaner mit dem Iran wirklich vor der Tür steht. Im Zweifelsfall sollten die Kurden dann aber an der Seite der USA stehen, findet er: „Die Amerikaner haben ihre Interessen, aber meistens sind das auch die unseren.“ Der Bürgermeister erklärt, wie er sich die Zukunft der Region vorstellt. Die Araber behaupteten ja, die Kurden wollten das zweite Israel in der Region werden und ein Vorposten des Westens sein, meint er. „Ausnahmsweise haben sie recht“, sagt er.

Shivan Fazil blickt nachdenklich auf die Skyline von Erbil. Er arbeitet für den Thinktank „Institute of Peace“. Fazil bestätigt den Eindruck, dass manche im kurdischen Sicherheitsapparat die Iran-Krise als Chance begreifen. Sie falle in eine Zeit, in der Erbil mit Bagdad mal wieder über die Auszahlung der Gehälter für Beamte und die dafür von den Kurden zu liefernde Ölmenge zankt. Einige hofften nun, dass die Iraner die Straße von Hormus für Öltransporte aus Saudi-Arabien sperren. Dann hinge die Weltwirtschaft vom Öltransport über die Kurdenregion ab. „Außerdem kommen nur die Kurden im Irak als Bodentruppen gegen den Iran infrage“, sagt Fazil. Das, so das Kalkül der kurdischen Falken, könnte den USA doch einige Zugeständnisse wert sein. Und vielleicht winke dann ja sogar der Hauptgewinn, die Unabhängigkeit.

Die kurdisch-amerikanischen Beziehungen nennt Fazil eine bitter-süße Angelegenheit. „Die USA haben die Kurden immer wieder in ihrer jüngeren Geschichte vor den Arabern gerettet. Beim kurdischen Unabhängigkeitsreferendum 2017 senkten sie aber den Daumen. Es wäre vermessen, nun auf einen Krieg zu setzen, den keiner wünscht“, sagt Fazil. „Und selbst wenn es dazu kommt: Die USA müssen langfristig denken, etwa auch an die Interessen der Türkei.“ Der Irak hat seit Oktober 2018 mit Barham Salih einen kurdischen Präsidenten. Eigentlich seien die Voraussetzungen für gute Beziehungen zwischen Erbil und Bagdad noch nie so gut gewesen, sagt Fazil. Die Kurdenregion sei gut beraten, in der Iran-Krise einfach dem Kurs der Zentralregierung zu folgen, findet er. „Sie will, dass der Irak sich aus dem Streit heraushält“, sagt Fazil. Ob das in dem gespaltenen Land allerdings auf Dauer möglich sein wird, daran hat der Politikberater auch seine Zweifel.

Das Feuer, das vom Qarachogh aus gut zu sehen war, wurde tatsächlich vom IS gelegt. Am selben Tag explodierten Bomben in Kirkuk. Die Sicherheitslage habe sich verschlechtert, sagt Fazil. In Erbil könne man deswegen die Hoffnung begraben, wie vor 2014 als Oase der Ruhe Investoren aus aller Welt anzulocken. „Es war ein schlechtes Zeichen, dass die Deutschen ihre Mission in Erbil unterbrochen haben. Das macht die Firmen nervös“, sagt er. Den verhältnismäßigen Wohlstand in der Kurdenregion zu retten, das sollte für die Kurden nun Priorität haben, findet er.

Erbil mit seinen Glitzertürmen liegt von den staubigen Pfaden im Flüchtlingslager Debaga aus gesehen auf einem anderen Planeten. Hier sammelt sich das Elend, das der IS über den Irak gebracht hat. Auch jene, die vor den Dschihadisten jüngst aus der Umgebung des Qarachogh geflüchtet sind, fanden hier Aufnahme. Die Bewohner tragen die Spuren des Terrors auf der Haut und in der Seele. Ein Mann zieht den Träger seines Unterhemds nach unten, als er nach dem Weg gefragt wird. Er zeigte seine Narben und sagt: „IS“. Bevor die Kämpfer ihn folterten, musste er zusehen, wie sie einen Mann köpften. „Ich kann seitdem nicht mehr schlafen. Ich habe Angst, davon zu träumen“, sagt der Mann.

 Bürgermeister Sharif Kareem Ahmed ist nicht geflohen.

Bürgermeister Sharif Kareem Ahmed ist nicht geflohen.

Foto: Cedric Rehman
 Ein Junge und ein Mädchen spielen im Flüchtlingscamp Debaga bei Erbil. Die Kapazität des Lagers ist inzwischen erschöpft.

Ein Junge und ein Mädchen spielen im Flüchtlingscamp Debaga bei Erbil. Die Kapazität des Lagers ist inzwischen erschöpft.

Foto: picture alliance / dpa/Jens Kalaene

Die 39-jährige Shaimma Aawad ist mit ihrer Familie aus einem Dorf am Qarachogh geflohen, das auf der arabischen Seite der Demarkationslinie liegt. Dort breitet sich die schwarze Flut des IS offenbar wieder ungehindert aus. Hussein berichtet von Morden wie zu den Zeiten, als die Terrormiliz noch offen herrschte. Die Mutter fühlt sich mit ihren Kindern unter dem Blechdach ihres Containers fürs Erste sicher. Ob sie in ihrer Misere überhaupt noch Gedanken verschwendet an den Konflikt zwischen Washington und Teheran? Sie nickt. „Wenn es Krieg gibt, bekommt unser Lager vielleicht keine Hilfsmittel mehr“, sagt sie. So einfach und so wesentlich sind die Sorgen der Iraker in diesem Spiel, das nicht das ihre ist.

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