Ära der Rivalitäten Von der Leyen will EU widerstandsfähiger machen

Straßburg · EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sieht auf die Europäische Union große Herausforderungen zukommen. Hat die Deutsche dafür die richtigen Konzepte? In ihrer Rede zur Lage der Union geht es auch um militärische Fähigkeiten.

   Ursula von der Leyen warnt vor schwierigen internationalen Zeiten.

Ursula von der Leyen warnt vor schwierigen internationalen Zeiten.

Foto: AP/Yves Herman

Mehr Rivalität, mehr Gefahren und mehr Skrupellosigkeit: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von Leyen hat die Bürgerinnen und Bürger in ihrer Rede zur Lage der Europäischen Union auf international schwierige Zeiten eingestimmt. „Wir treten in eine neue Ära verstärkter Konkurrenz ein - eine Ära, in der manche vor nichts zurückschrecken, um an Einfluss zu gewinnen“, sagte die frühere deutsche Verteidigungsministerin am Mittwoch im Europaparlament in Straßburg. Es sei ein Zeitalter „regionaler Rivalitäten und großer Mächte, die ihr Verhältnis zueinander neu austarieren“.

Konkret erwähnte von der Leyen in ihre Rede China und die USA. Zudem sprach sie von Schurkenstaaten, ohne dabei zu sagen, ob sie in diese Gruppe auch Länder wie Russland einschließt.

Um gewappnet für dieses neue Zeitalter zu sein, will von der Leyen nun sowohl „die Seele“ der Europäischen Union stärken, als auch ganz konkrete Projekte voranbringen. Ein Überblick:

Wirtschaftliche Unabhängigkeit

Die derzeitige Abhängigkeit von Hochleistungschips aus Asien schadet aus Sicht der EU-Kommission der europäischen Wettbewerbsfähigkeit. Deswegen will von der Leyen nun über ein „Chips-Gesetz“ die Forschungs-, Entwicklungs- und Produktionskapazitäten ausbauen. Dies sei nicht nur eine Frage der Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch eine Frage der technologischen Souveränität. Vom Smartphone und Elektroroller bis zu Zügen oder ganzen intelligenten Fabriken - „ohne Chips kein digitales Produkt“, sagte von der Leyen.

Zudem soll über sogenannte „Global-Gateway-Partnerschaften“ in Infrastrukturprojekte investiert werden, die Europa und seine Wirtschaft besser mit anderen Weltregionen vernetzen. Als Beispiele nannte von der Leyen eine Transportverbindung für „grünen Wasserstoff“ zwischen der EU und Afrika.

Um unfaire Konkurrenz aus Drittstaaten wie China weiter einzuschränken, soll zudem ein EU-weites Verbot für Produkte aus Zwangsarbeit kommen. „Menschenrechte sind nicht käuflich - für kein Geld der Welt“, sagte die 62-Jährige. 25 Millionen Menschen würden derzeit durch Drohungen oder Gewalt zur Arbeit genötigt.

Verteidigung

Vor dem Hintergrund der Ereignisse in Afghanistan plädiert von der Leyen für mehr militärische Selbstständigkeit und den Ausbau der Europäischen Verteidigungsunion. Konkret will sie unter anderem ein gemeinsames Lage- und Analysezentrums aufbauen und eine Mehrwertsteuerbefreiung für Rüstungsgüter einführen, die in Europa entwickelt und hergestellt wurden.

Grundsatzentscheidungen sollen nach Angaben von der Leyens in der ersten Hälfte des kommenden Jahres bei einem mit Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron organisierten „Gipfel zur Europäischen Verteidigung“ getroffen werden. Man müsse entscheiden, wie man die Möglichkeiten des EU-Vertrags im Bereich der Verteidigung nutzen könne, erklärte die CDU-Politikerin.

Mit Blick auf den bereits diskutierten Aufbau einer neuen EU- Krisenreaktionstruppe mahnte von der Leyen, sich daneben auch um eine grundsätzliche Frage zu kümmern. „Man kann die am weitesten entwickelten Streitkräfte der Welt haben - doch wenn man nie bereit ist, sie einzusetzen, wozu sind sie dann gut?“, fragte sie. Was die EU bisher zurückgehalten habe, seien nicht nur fehlende Kapazitäten, sondern auch fehlender politische Wille. „Wenn wir diesen politischen Willen entwickeln, können wir auf EU-Ebene viel tun“, sagte sie.

Corona und Gesundheitsvorsorge

Aus den Erfahrungen der Corona-Pandemie heraus will von der Leyen in den kommenden sechs Jahren Investitionen in Höhe von 50 Milliarden Euro in die Gesundheitsvorsorge ermöglichen. Kein Virus dürfe aus einer lokalen Epidemie jemals wieder eine globale Pandemie machen, sagte von der Leyen. „Es gibt keine bessere Anlage für unser Geld.“

Klima

Bei einem der wichtigsten Zukunftsthemen räumte von der Leyen ein, dass die EU alleine machtlos ist. „Die derzeitigen Verpflichtungen für 2030 werden nicht ausreichen, um die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen“, warnte sie. Große Volkswirtschaften „von den USA bis Japan“ müssten ihre Klimaschutzzusagen nun rechtzeitig mit konkreten Plänen untermauern. Die EU habe als erste umfassende Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Ziele vorlegt.

Die Seele der EU

Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Redefreiheit sind aus Sicht von der Leyens Teil der Seele der EU. Deswegen will sie die Werte auch innerhalb der Union entschlossenen verteidigen, notfalls auch mit neuen Verfahren zur Kürzung von EU-Mitteln. Laut der Kommissionschefin sollen bereits in den kommenden Wochen die ersten schriftlichen Mitteilungen zu Verfahren verschickt werden, die zu einer Kürzung der EU-Mittel für Länder wie Ungarn und Polen führen könnten. Beiden Ländern wird von Kritikern vorgeworfen, die Justiz unter Verletzung von EU-Standards zu beeinflussen.

Um zu verhindern, dass arbeitslose junge Menschen an der EU zu zweifeln beginnen, wird es ein neues Austauschprogramm namens Alma geben. Es soll Interessierten die Möglichkeit bieten, eine Zeit lang in einem anderen Mitgliedstaat Berufserfahrung zu sammeln.

Die Reaktionen

Aus dem Europäischen Parlament (EP) kam ein geteiltes Echo auf von der Leyens Rede. Während sich zum Beispiel der EVP-Fraktionsvorsitzende Manfred Weber (CSU) positiv äußerte, übten andere scharfe Kritik. So warf der Vorsitzende der SPD-Europaabgeordneten, Jens Geier, von der Leyen vor, keine Antwort auf die Frage zu geben, wie die Klimaziele „ohne soziale Risse und einseitige Härten“ erreichten werden könnten.

Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Ska Keller monierte ein unzureichendes Tempo beim Klimaschutz und der EP-Vizepräsidentin Nicola Beer (FDP) fehlte eine klare Ansage, wie die Mitgliedstaaten bei der Verteidigungsunion in die Pflicht genommen werden sollen. AfD-Chef Jörg Meuthen, der für die Rechtsaußen-Fraktion Identität und Demokratie im EU-Parlament sitzt, warf von der Leyen „nie zuvor gesehene Ausgabe-Orgien“ vor.

Linken-Fraktionschef Martin Schirdewan nannte es falsch, als Lehre aus dem Afghanistan-Desaster eine europäische Militärunion zu fordern. Das Geld wäre besser in der Armutsbekämpfung aufgehoben, erklärte er. Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer unterstützte hingegen die Forderungen ihrer Vorgängerin im Amt. „Ein deutlicher Sprung nach vorn für die Europäische Verteidigung ist dringend notwendig“, kommentierte die CDU-Politikerin.

Explizit begrüßt wurde von deutscher Seite auch das von der Kommission angekündigte Engagement für mehr EU-Investitionen in Infrastrukturprojekte im Ausland. „Ich freue mich sehr, dass die Präsidentin die Idee aufgegriffen hat, eine Initiative für eine regel- und wertebasierte Investitionspartnerschaft zu starten“, kommentierte Botschafter Michael Clauß als der Ständige Vertreter der Bundesregierung bei der EU. Dies sei auch für die europäische Gestaltung der Globalisierung wichtig.

Wie es jetzt weitergeht

Die Rede von der Leyens ist vor allem relevant, weil ihre Behörde als einziges EU-Organ das Initiativrecht im europäischen Gesetzgebungsverfahren hat. Die Vorschlage werden deswegen in den kommenden Monaten präzisiert werden und in vielen Fällen in konkrete Gesetzesvorschläge münden. Dann sind der EU-Ministerrat und das Europaparlament als Gesetzgeber am Zug.

(june/dpa)
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