Millionen fürchten um die Demokratie Viktor Orban — Ungarns Napoleon

Zehntausende demonstrieren gegen Ungarns Regierungschef Viktor Orban und dessen neue Verfassung. Die EU nimmt die Entmachtung der Zentralbank nicht hin und setzt Gespräche über Finanzhilfen aus.

Ungarn: Premier Orban feiert trotz massiver Proteste
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In Budapest sind in den vergangenen Tagen mehrere Zehntausend Ungarn auf die Straße gegangen, um gegen die rechtsgerichtete Regierung zu protestieren. Getrieben werden die Menschen noch immer von der Angst um den Bestand ihrer jungen Demokratie. Sie sehen sie nach der Verfassungsänderung durch die Regierung von Viktor Orban massiv beschädigt. Ihr Ruf "Viktator, Viktator!" stempelt den Regierungschef zum autoritären Machtmenschen.

Sie wollen seinen Rücktritt und begreifen dies als politischen Reinigungsprozess. Doch das lehnt Orban erwartungsgemäß ab. Der sozialistische Abgeordnete Tibor Szanyi sagte, Orban habe Ungarn von einem verheißungsvollen Ort in Europas dunkelsten Fleck verwandelt.

Die Bundesregierung in Berlin beobachtet die Entwicklung mit Sorge. Sie fordert daher die Regenten in Ungarn auf, die Grundwerte in Europa und die demokratischen Rechte der Bürger auf jeden Fall zu achten. Das ist starker Tobak, denn Ungarn ist Mitglied in der Europäischen Union, einem Zusammenschluss von 27 demokratischen Staaten.

Die EU hat massive Kritik an der umstrittenen Gesetzesänderung geübt. Der grüne EU-Abgeordnete Daniel Cohn-Bendit sagte: "Wir haben eine sehr ernsthafte demokratische Krise in Ungarn." Deren Auslöser ist für Cohn-Bendit Regierungschef Viktor Orban: "Ich glaube, dass er durchgeknallt ist, autoritär durchgeknallt. Er stilisiert sich zum ungarischen Napoleon und sieht sich als kleiner ungarischer Kaiser."

Auch Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn wählte drastische Worte: "Ungarn wird zum Schandfleck der EU." So etwas habe man "in entwickelten Ländern noch nicht erlebt", meinte Asselborn und ergänzte: "Die EU-Kommission als Hüterin der Verträge muss zuschlagen."

Das prüft die EU nun. Ihre Kommissare würden am kommenden Mittwoch möglicherweise ein Verfahren wegen der Verletzung der EU-Verträge einleiten, teilte ein Sprecher in Brüssel mit. Die Abgeordneten wollen den nie zuvor genutzten Artikel 7 des EU-Vertrages gegen Ungarn anwenden. Wenn die Grundrechte der EU wie Demokratie, Grundfreiheiten oder Rechtsstaatlichkeit verletzt sind, sieht dieser Sanktionen vor bis hin zum Entzug des Stimmrechts bei Ratstreffen der EU-Regierungen.

Nicht nur die Unabhängigkeit der Notenbank, sondern auch von Richtern, Medien und der Datenschutzbehörde ist nach Befürchtung der EU in Gefahr. In Brüssel hieß es, möglicherweise werde die EU bereits heute erste Maßnahmen gegen die Regierung in Budapest ergreifen. Seit Jahresanfang ist die neue Verfassung in Kraft. Sie war mit Zweidrittelmehrheit der seit Frühjahr 2010 regierenden rechtspopulistischen Fidesz (Bund Junger Demokraten) beschlossen worden. Das neue Grundgesetz löst die Verfassung von 1989 ab, die die demokratischen Grundrechte nach Jahrzehnten kommunistischer Diktatur verbrieft hatte.

Auch in der neuen Verfassung werden die Grundrechte erklärt, doch die Kompetenzen des Verfassungsgerichts wurden stark beschnitten und die Unabhängigkeit der Justiz eingeschränkt. Kritiker sehen hierin eine Aushöhlung der Gewaltenteilung. Auch wurde eine neue Behörde geschaffen, der die Notenbank unterstellt wurde.

Nach Ansicht der EU-Kommission ist das ein Verstoß gegen EU-Recht. Laut EU-Vertrag müsse die Zentralbank unabhängig sein und dürfe nicht den Weisungen einer Regierung unterliegen. Auch um die Pressefreiheit macht sich die EU Sorgen. Schon 2010 war ein neues Mediengesetz beschlossen worden, das einen staatlichen Zugriff auf Medien ermöglicht hatte.

Zum Streit um die neue Verfassung gesellt sich die Finanznot des Landes. Gestern früh war der Wechselkurs der ungarischen Währung Forint auf ein neues Rekordtief gesunken: Für einen Euro waren 324 Forint zu zahlen. In diesem Jahr muss Budapest 4,8 Milliarden Euro Schulden refinanzieren.

Für kommenden Mittwoch waren Gespräche zwischen der EU-Kommission, dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und Ungarn angesetzt. Die Kommission erklärte, es gebe "keine Pläne, wieder in Budapest zu verhandeln". Der ressortfreie Minister Tamas Fellegi bat gestern um die Wiederaufnahme der Verhandlungen. Ungarn werde "auf alle Bedenken und Einwände des IWF reagieren und diese akzeptieren, wenn dies im Einklang mit den Interessen des Landes steht", erklärte der Minister. Bislang hatte Budapest einen IWF-Kreditrahmen ohne wesentliche Auflagen angestrebt.

Mit der neuen Verfassung wird Ungarn und damit Europa wohl länger leben müssen. Auch wenn die Regierung Orban irgendwann abgewählt werden sollte, braucht jede neue Regierung eine Zweidrittelmehrheit zur erneuten Verfassungsänderung. Das ist bitter für Ungarn, wo zum ersten Mal der Eiserne Vorhang (Juni 1989) zerschnitten worden war.

Hier entwickelte sich der Funke Demokratie zum auslösenden Flächenbrand, der die Welt veränderte und Deutschland am Ende die Wiedervereinigung gebracht hatte.

(RP/csi)
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