Reportage Venezuela — wie ein reiches Land zerfällt

Caracas · Die Regierung schüchtert die Mittelschicht mit den Mitteln der Diktatur ein, aber der Staatsapparat ist bereits in Auflösung.

Caracas räumt den "höchsten Slum der Welt"
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Caracas räumt den "höchsten Slum der Welt"

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Das Lächeln des Kommandanten überstrahlt alles. Auf blutrotem Hintergrund blickt der Führer voller Güte und Zuversicht auf die Menschen, die an der Plaza Sucre in Caracas Schlange stehen. Wie ein Magnet zieht der staatliche Supermarkt alle an, die für das Wochenende einkaufen wollen. "Heute soll es Bier geben", sagt eine Frau. "Aber wieder keine Milch." In den vergangenen dreieinhalb Stunden habe sie sich kaum vom Fleck bewegt. Direkt neben dem Eingang zum Supermarkt stinken Abfallberge zum Himmel. Jeder Schritt in Richtung Supermarkt führt tiefer in den Gestank. Aber was macht das schon, wenn zuhause Kinder warten, die essen wollen. Kaum einer verzieht die Miene, obwohl vielen der Schweiß von der Stirn läuft.

Aus der Nebenstraße biegt ein Motorrad in Richtung des Platzes ab. Langsam fährt es an den Wartenden vorbei. Der Mann trägt einen schwarzen Helm und eine olivfarbene Uniform. Am Gürtel hat er eine Tasche befestigt, in der etwas steckt. "Achtung, das ist ein Colectivo, schau nicht so auffällig hin", sagt William Requejo, der einer Nachbarschaftsvereinigung angehört.

Die Colectivos beherrschen Venezuelas Hauptstadt Caracas. In den Armenvierteln, den Barrios Populares, errichten sie Straßensperren, wann es ihnen passt, kontrollieren, wen sie wollen. Sie sorgen auf ihre Weise für Ordnung. "Wenn die Menschen vor den Läden Schlange stehen, tauchen sie auf, damit alle sich benehmen", erzählt William Requejo. Und falls sie sich nicht benehmen? "Das Ding in der Tasche war eine Waffe", sagt Requejo.

Nur Lebensmüde gehen nachts auf die Straße

Immer öfter dringen die Colectivos in das Zentrum der Stadt vor. Wenn es Demonstrationen gegen die Regierung von Nicolas Maduro gibt, schlagen sie unter den Augen der Polizei Demonstranten zusammen. Im Februar und den darauf folgenden Monaten ging die Mittelschicht zu Zehntausenden in Caracas und anderen Städten des Landes auf die Straße. Sie forderte auch, dass die Regierung den Colectivo-Milizen die Waffen wieder wegnehmen soll, die sie ihnen gegeben hat.

Hugo Chavez sah einst den Volkskrieg gegen die USA kommen. Also ordnete er an, dass die Einwohner der Armenviertel bewaffnet werden. Die neuen Milizen sollten im Zweifel auch bei einem Putsch seiner Gegner zum Einsatz kommen. Doch da die Amerikaner nie kamen und der Umsturz ausblieb, suchten sich die Colectivos eine andere Beschäftigung in der Kriminalität. Schwer bewaffnet und unantastbar für Polizei und Gerichte verwandelten die Colectivos Caracas in eine Stadt, in der sich nur noch die Lebensmüden nach Einbruch der Dunkelheit zu Fuß auf die Straße wagen.

Auch der Nachfolger von Hugo Chavez, Nicolas Maduro, konnte sich zunächst auf die Colectivos verlassen. Während der Proteste im Winter und Frühjahr standen sie dem neuen Präsidenten zur Seite. Die Chavisten bewiesen eine Einigkeit, an der sich die Opposition die Zähne ausbiss. Ein halbes Jahr später aber, am 1. Oktober, lag der Abgeordnete der sozialistischen Regierungspartei PSUV, Robert Serra, tot in seiner Wohnung. Sein Körper war übersät mit Messerstichen, seine Genitalien verstümmelt. Die Regierung beschuldigte die Opposition. Wenige Tage später feuerte die Polizei mitten im Zentrum von Caracas dann aber auf die Colectivos. Sicherheitskräfte der chavistischen Regierung schossen auf Chavisten, und am Ende waren fünf Menschen tot. Seitdem rätseln die Venezolaner, wer in ihrem Land eigentlich gegen wen kämpft.

Der Chavismus zerfällt

William Requejo steuert seinen SUV gelassen durch das von den Colectivos beherrschte Gebiet auf den Hügeln des Barrios Enero 23. Hier zu Füßen des Mausoleums für den verstorbenen Hugo Chavez kenne er die Paramilitärs, sagt er. Einmal sei er aber falsch abgebogen und habe sich in dem Gewirr der Gassen verirrt. "Da kam eine Patrouille von Leuten, die ich noch nie vorher gesehen habe. Gott sei Dank hat mich trotzdem einer von denen erkannt", sagt er. Und wenn nicht? "Na, dann hätten sie mich erschossen", sagt Requejo. Seine Organisation komme mit den meisten Colectivos klar, weil sie mit der Opposition nichts zu tun habe. "Wir wollen den Zusammenhalt der Menschen in den Barrios stärken. Im Grunde nehmen wir Chavez nur beim Wort", sagt er.

Chavist sei er nie gewesen und werde es auch nicht mehr werden. Requejo fand es gut, als Chavez den Menschen in den Armenvierteln billige Lebensmittel, ärztliche Versorgung und bessere Wohnungen zur Verfügung stellte. Schlecht findet er, dass die Chavisten von Anfang an im Gegenzug Loyalität erwartet haben. Die Parolen von der Teilhabe aller an der Demokratie hätten mit der Realität in Venezuela wenig zu tun, sagt Requejo. Im Grunde herrsche der Chavismus wie einst die Patrons der Mafia in Sizilien, sagt er. Die Anhängerschaft wird mit milden Gaben in Abhängigkeit gehalten. Für ein Land, in dem der Großteil der Bevölkerung arm ist, hätten die Chavisten die perfekte Herrschaftsstrategie entwickelt, sagt Reqejo.

Dennoch zerfällt der Chavismus. Der Machtkampf der Fraktionen lähmt seit dem Tod von Hugo Chavez 2013 den Staatsapparat. Sein hölzern wirkender Nachfolger Maduro muss die Armee mit neuen Rüstungsausgaben besänftigen, weil diese sich von den Colectivos bedroht fühlt. Er muss die Armen bei der Stange halten, die zwar bereit sind, Schlange zu stehen, aber merken, dass die Schlange immer öfter vor leeren Regalen endet. Maduro muss sich überlegen, wie er mit den Colectivos umgeht. Wenn er die Armee gegen sie einsetzt, droht ein Bürgerkrieg. Wenn er dem Treiben der Colectivos keine Grenzen setzt, gefährdet er seine Macht.

Im Land mangelt es an allem

Dem Präsidenten fehlt aber zunehmend das Geld, um Loyalität zu belohnen. Die Entscheidung von Hugo Chavez, eine strikte Devisenkontrolle einzuführen, um die Preise stabil zu halten, rächt sich nun. Dollars sind im Land kaum zu haben. Für venezolanische Bolivares kann die Regierung keine Güter einführen. Deshalb mangelt es im Land an allem, vom Toilettenpapier bis zu Medikamenten. Chavez hatte es versäumt, in eine Wirtschaft zu investieren, die Venezuela versorgen könnte.

Stattdessen hat er darauf vertraut, dass sich das Land mit seinem Ölreichtum alles leisten kann. Weit mehr als die Hälfte des Staatshaushaltes wird durch das Ölgeschäft finanziert. Doch der Ölpreis ist dramatisch eingebrochen, und das einzige Mittel, dass Ökonomen einfällt, um den Staatsbankrott zu vermeiden, wäre eine massive Abwertung der nationalen Währung. Die subventionierten Preise für den Grundbedarf würden dann aber in schwindelerregende Höhen steigen.

(RP)
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