USA 2022 Amerikas Demokratie lebt

Analyse | New York · Analyse Die USA gehen innenpolitisch gestärkt aus diesem Jahr hervor: Das Prinzip der friedlichen Machtübergabe ist intakt. Der unwahrscheinliche Superheld der Geschichte ist ein 80-jähriger Präsident mit niedrigen Zustimmungsraten.

Die Augen stechen aus dem dunklen Gesicht unter dem schneeweißen Haar hervor. Auf einer anderen Collage lässt ihn eine dunkle Klappe über dem linken Auge verwegen wie ein Pirat aussehen. Aus dem Sommer dieses Jahres stammt auch eine zweigeteilte Montage, auf der in der oberen Hälfte Donald Trump wie ein Sonnengott posiert und in der unteren eine unheimliche Gestalt im Halbdunkel höhnisch grinst. „Bekommt Covid und kann nicht atmen“, steht im Trump-Teil, während es unten heißt: „Bekommt Covid und tötet den Al-Kaida-Führer“. Das ist „Dark Brandon“, der nach dem erfolgreichen Schlag der Vereinigten Staaten gegen den Terroristenführer Aiman al-Sawahiri die elektronischen Netzwerke eroberte – als Hommage an US-Präsident Joe Biden.

Der rechte Influencer Ben Shapiro beklagte sich kurz darauf, dass „die Linken“ damit ein Markenzeichen der Trump-Fans zerstört hätten. Die Rede ist von dem Spruch „Let’s Go Brandon“ („Los, Brandon“), der 2021 im Internet, auf Trucks und sogar als Schlachtruf eines Abgeordneten im Repräsentantenhaus aufgetaucht war. Nicht sehr originell, aber beliebt unter Konservativen, die damit auf die Reporterin bei einem Autorennen anspielen, die „Fuck You, Biden“-Rufe falsch verstanden hatte.

Zwischen „Let’s Go Brandon“ und „Dark Brandon“ verging knapp ein Jahr. Politisch war das eine halbe Ewigkeit. In dieser Zeit verwandelte sich der greisenhafte „Onkel Joe“ Biden in der Netzwelt zum coolen Superhelden. Eine Gestalt, die Terroristenführer tötet, dem Autokraten im Kreml die Stirn bietet, Chinas starken Mann Xi Jinping herausfordert und daheim von Erfolg zu Erfolg eilt: von der Rekordinvestition in die Modernisierung der Infrastruktur über das größte Klimapaket der US-Geschichte und den Erlass von Ausbildungsschulden bis zur massiven Förderung einheimischer Halbleitertechnik.

Wie der „Dark Brandon“ im Netz erwischte der gerade 80 Jahre alt gewordene Joe Biden seine Gegner auf dem falschen Fuß. Die bissen sich an einem Präsidenten die Zähne aus, der sich als so widerstandsfähig und agil erwies wie die eben noch vermeintlich im Untergang befindliche Demokratie der USA.

Biden persönlich führte 2022 die Gegenoffensive der liberalen Demokratie an. Am Ende des Jahres ist festzuhalten: Während in Russland, China und im Iran Menschen gegen Unterdrückung auf die Straße gehen, belohnten die Amerikaner Biden bei den Zwischenwahlen mit dem besten Ergebnis einer Partei des Präsidenten seit 88 Jahren.

Der Historiker Michael Beschloss hebt hervor, dass nur zwei andere Präsidenten – John F. Kennedy nach der Kubakrise und George W. Bush nach dem 11. September – keinen Sitz im Senat und weniger als zehn im Repräsentantenhaus verloren. Die Gründe dafür sind komplex, lassen sich aber auch an einem Ereignis festmachen: dem Angriff auf die Demokratie durch Donald Trump und dessen „Make America Great Again“-Bewegung am 6. Januar 2021.

Abzulesen ist das an der Zurückweisung von Kandidaten, die sich Trumps „große Lüge“ von den angeblich gestohlenen Wahlen auf die Fahne geschrieben hatten. USA-weit waren das mehr als 225 Personen, die für Kongressmandate, Gouverneursposten und eine Fülle lokaler Wahlämter angetreten waren. „Praktisch jeder Einzelne von ihnen wurde geschlagen“, spitzt der Kolumnist Tom Friedmann in der „New York Times“ ein wenig zu. Aber seine Analyse trifft: Die „Midterms“ waren „der wichtigste Test seit dem Bürgerkrieg“. Die Fähigkeit zur friedlichen Machtübergabe habe sich als intakt erwiesen.

Seinen Anteil daran hat Biden. „Unsere Demokratie ist in den zurückliegenden Jahren getestet worden“, sagte der Präsident zum Ausgang der Wahlen: „Aber das amerikanische Volk hat gesprochen und einmal mehr bewiesen, dass wir eine Demokratie sind.“ Shibley Telhami von der Denkfabrik Brookings Institution erklärt die Diskrepanz zwischen den schwachen Umfragewerten Bidens, die um die 40-Prozent-Marke pendeln, und dem Erfolg der Demokraten als „Ergebnis der Zurückweisung Donald Trumps und vieler seiner handverlesenen Kandidaten“. Ein Richtungsentscheid also, der sich als Triumph der Demokratie verstehen lässt. So interpretieren einige Experten auch das neben der Wirtschaft wichtigste Thema, das die Wähler bewegt hat: den legalen Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen, den der von niemandem gewählte Supreme Court im Sommer mit seinem Abtreibungsurteil infrage gestellt hatte.

Der Harvard-Politologe und Co-Autor des Bestsellers „How Democracies Die“ („Wie Demokratien sterben“), Daniel Ziblatt, bleibt dennoch besorgt über die Selbstradikalisierung der Republikaner, die Wahlergebnisse infrage stellen und sich teilweise nicht von Gewalt in der Politik distanzieren mögen. Doch Donald Trump sieht zum Ende dieses Jahres selbst immer mehr wie ein Verlierer aus, der den Zenit überschritten hat. Seine Rolle bei dem gescheiterten Angriff auf die amerikanische Demokratie, sein Umgang mit geheimen Dokumenten und sein Geschäftsgebaren haben den früheren Präsidenten in rechtliche Nöte und inzwischen auch in die politische Defensive gebracht.

Sollte Trump erneut als Bannerträger der Republikaner aufgestellt werden, droht ihn „Dark Brandon“ abermals zu schlagen. Der Amtsinhaber wird die Amerikaner wie im zurückliegenden Jahr daran erinnern, worum es geht: „Gleichheit und Demokratie stehen unter Beschuss, und wir tun uns keinen Gefallen, uns etwas anderes einzureden.“

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