Wahlen in den USA Profitieren die Demokraten bei den „Midterms“ von der Abtreibungsdebatte?

Las Vegas · Spült eine „Pinke Welle“ der Empörung über den Zugang zur Abtreibung in den USA genügend Demokraten in den Kongress, um die Mehrheit in Senat und Repräsentantenhaus zu halten? Die Frauen bleiben die größte Hoffnung der Partei des Präsidenten.

Adam Laxalt und Catherine Cortez Masto (Bild-Kombo).

Adam Laxalt und Catherine Cortez Masto (Bild-Kombo).

Foto: AP/John Locher

Catherine Cortez Masto setzt nicht alles auf eine Karte. Aber sie zieht sie im Rennen um ihren Senatssitz im Bundesstaat Nevada bei jeder Gelegenheit. Sie wisse, über welche Themen Familien am Küchentisch sprächen, räumt die erste Latina im US-Senat kürzlich in einem Zeitungs-Interview ein. Da ginge es um die Preise im Supermarkt und an der Tankstelle, die hohen Wohnkosten und steigende Kriminalität. „Aber ich weiß auch von unseren Familien, welche Konsequenzen das Abtreibungsurteil Roe v. Wade hat“, fügt die Demokratin mit Blick auf die Entscheidung des Supreme Court vom Juni hinzu. „Viele sind empört darüber.“

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Masto hofft, dass ihr bis zum Ende des Wahltags am 8. November genügend Empörte die Stimme gegeben haben. Umfragen sehen in der 2016 erstmals in den Kongress gewählte Senatorin die gefährdetste Amtsinhaberin der Demokraten. Ihr republikanischer Herausforderer Adam Laxalt liegt auf der Zielgeraden des Wahlkampfs gleichauf oder hat knapp die Nase vorn. Wobei die rund drei Millionen Einwohner in der Heimat des Glücksspiels Meinungsforscher vor notorische Probleme stellen.

Kaum ein anderer Bundesstaat hat eine so hohe Fluktuation in der Bevölkerung wie Nevada, dessen Zentrum Las Vegas ein Magnet für Beschäftigte der Dienstleistungs- und Tourismusindustrie ist. Dank der ungewöhnlichen Arbeitszeiten sind Wähler für Demoskopen noch schwerer zu erreichen als gewöhnlich. Generell lässt sich sagen, dass in Nevada mehr Menschen ohne höheren Bildungsabschluss leben als im Rest der USA. Während im nationalen Schnitt jeder dritte Amerikaner einen College-Abschluss hat, ist es hier nur jeder vierte.

„Die radikale Linke, reiche Eliten, erweckte Unternehmen, die akademische Welt, Hollywood und die Medien versuchen Amerika zur Geisel zu nehmen“, appelliert der Republikaner Laxalt in einem TV-Spot über Bilder von „Black Lives Matter“-Protesten an die Wut der kleinen Leute. Die merken steigende Hypothekenlasten durch höhere Zinsen und Benzinpreise, die mit mehr als fünf Dollar pro Gallone um 40 Prozent über dem US-Durchschnitt liegen, ganz besonders in ihrem Geldbeutel.

Der 44-jährige Laxalt verdankt seinen Aufstieg zum Senats-Kandidaten der Republikaner Donald Trump, der den Rechtspopulisten in Nevada bei den Vorwahlen unterstützt hatte. Während Cortez Masto den Präsidenten ihrer Partei auf Armlänge hält, sucht Laxalt die Nähe zu Trump, dessen Wiederwahlkampagne er 2020 in Nevada geleitet hatte. „Sie sagt die zwei Worte nicht: Joe Biden“, stichelte der Republikaner kürzlich auf einer Kundgebung mit dem Ex-Präsidenten, der sich über angeblich „die schmutzigen und manipulierten Wahlen“ 2020 beklagt.

Das hatte Laxalt kürzlich auch noch getan. Seit er eine Chance sieht, Cortez Masto zu schlagen, spielt er seine Unterstützung der „Großen Lüge“ von den angeblich gestohlenen Präsidentschaftswahlen 2020 herunter. Wie er auch nicht mehr über ein nationales Abtreibungsverbot spricht, wie es auch der republikanische Senator Lindsey Graham aus South Carolina vorgeschlagen hatte. Dieser will Schwangerschaftsabbrüche ab der 15 Woche nach der Befruchtung USA-weit verbannen.

Graham erwies den Republikanern mit dem Vorstoß einen Bärendienst, nachdem bereits das Abtreibungsurteil des obersten Gerichts vom Juni den sicher geglaubten Sieg der Republikaner bei den Midterms infrage gestellt hatte. Der von Trump mit drei erzkonservativen Richtern gespickte Supreme Court hatte fast ein halbes Jahrhundert Rechtsprechung über den Haufen geworfen. Mangels eines nationalen Gesetzes galten über Nacht die Abtreibungsregelungen in den 50 Bundesstaaten.

Demnach sind Schwangerschaftsabbrüche in 14 Bundesstaaten nahezu vollständig verboten. In einigen Fällen sogar bei Inzest oder wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist. In zehn weiteren Staaten blockierten Gerichte vorerst die Anwendung restriktiver Gesetze. Laut Guttmacher Institute leben mehr als die Hälfte der Amerikanerinnen im geburtsfähigen Alter in Staaten mit erheblichen Einschränkungen beim Zugang zu legalen Schwangerschaftsabbrüchen.

Das Urteil des Supreme Court erwies sich für die Republikaner zunächst als politischer Bumerang. Bei einem Referendum im konservativen Midwest-Staat Kansas stimmten im August zur großen Überraschung der Beobachter 59 Prozent der Teilnehmer gegen ein Verbot von Abtreibungen in der Verfassung. Parallel dazu registrierten sich Frauen in Rekordzahl neu zum Wählen bei den Zwischenwahlen im November.

Laut TargetSmart trugen sich in Wisconsin 15,6 mehr Frauen als Männer neu ins Wahlregister ein, in Pennsylvania 12 Prozent und in Ohio 11 Prozent. Amerikanische Medien spekulierten über eine „Pinke Welle“ am 8. November, die mehr Demokraten in den Kongress schwappen könnte, als diese vor dem Urteil erhoffen durften. Der linke Provokateur Michael Moore sagt enthusiastisch einen „Roe-vember“ voraus, bei dem die Demokraten von dem Zorn der Frauen über das Kippen von „Roe v. Wade“ durch den Supreme Court profitieren könnten.

Auch nüchternere Strategen der Demokraten rieten ihren Kandidaten für Senat und Repräsentantenhaus, das Thema Abtreibung ins Zentrum des Wahlkampfs zu rücken. Nach einer Recherche der „Associated Press“ flossen bis Mitte September bereits 124 Millionen US-Dollar in TV-Spots, die auf den straffreien Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen abhoben. Verglichen mit sechs Millionen Dollar, die sie während der letzten Midterms 2018 insgesamt in das Thema investierten.

In fünf Bundesstaaten stimmen die Bürger zudem in Referenden über Abtreibung ab. Prominent in Michigan, wo das Thema neben den Rennen um die Sitze im Repräsentantenhaus auch den Gouverneurswahlkampf bestimmt.

In Georgia katapultierten Enthüllungen über den Senatskandidaten Herschel Walker die radikalen Positionen der Trump-Republikaner in die Schlagzeilen. Eine ehemalige Partnerin des Football-Stars hielt diesem vor, sie zu einer Abtreibung gedrängt und dafür bezahlt zu haben. Als Beleg präsentierte sie eine Dankkarte und einen Scheck.

In einem Fernsehinterview räumte der strikte Abtreibungsgegner ein, dass der Scheck seine Unterschrift trage, bestritt aber den Zweck. „Ich werde immer für das Leben einstehen“. Die Vorwürfe könnten Walker die entscheidenden Prozentpunkte in dem knappen Rennen gegen Amtsinhaber Ralph Warnock kosten. Der demokratische Senator flutet die lokalen TV-Kanäle im Großraum Atlanta mit TV-Spots, die den Football-Star als „Scheinheiligen“ abstempeln.

Vor allem im Repräsentantenhaus hoffen demokratische Kandidaten von dem Boomrang-Effekt des Supreme-Court-Urteils zu profitieren. Sie hoffen deutlich weniger, als die im Schnitt 26 Sitze zu verlieren, die die Partei des Präsidenten seit dem Zweiten Weltkrieg traditionell bei den „Midterms“ einbüßt. Dafür bräuchten sie einmal mehr die Unterstützung der Frauen, allen voran der Afroamerikanerinnen, der Latinas und der gebildeten weißen Frauen aus dem suburbanen Amerika.

US-Präsident Biden versprach in einer Rede Mitte Oktober, er werde bei einer Verteidigung der Mehrheit seiner Partei im Kongress einen Gesetzesentwurf unterstützen, der ein nationales Recht auf straffreien Zugang zur Abtreibung schaffe. „Wenn der Kongress das verabschiedet, werde ich es im Januar unterzeichnen.“ Er versprach von seinem Veto Gebrauch zu machen, falls die Republikaner bei einem Wahlsieg versuchen sollten, ein nationales Verbot durchzusetzen.

Ob die „Pinke Welle“ mehr Wunschdenken demokratischer Strategen als Wirklichkeit ist, lässt sich schwer abschätzen. Mehrere Umfragen der letzten Tage zeigen, dass das Thema Abtreibung gegenüber Inflation und Wirtschaftsthemen deutlich in den Hintergrund gerückt ist. Laut einer Erhebung für die „New York Times“ ist Abtreibung für lediglich neun Prozent der Frauen das wichtigste Thema und für ein Prozent der Männer.

Dieselbe Umfrage registriert einen drastischen Stimmungsumschwung unter Wechselwählerinnen. Hatten die Demokraten wegen der Abtreibung im September bei dieser für sie wichtigen Teilgruppe noch einen Vorsprung von 14 Prozentpunkten, lagen sie bei den unabhängigen Frauen zuletzt um 18 Punkte zurück.

Erfahrene Analysten wie James Carville, der einst Bill Clinton beriet, sehen das als Bestätigung ihrer Bedenken, „dass der Hyper-Fokus auf Abtreibung funktioniert“. Das Thema sei „gut“, aber es sei ein Fehler, die Angriffe wegen steigender Preise, Kriminalität oder Einwanderung unwidersprochen im Raum stehenzulassen. „Ich fürchte, das geht nicht auf.“

Genau deswegen setzt die Senats-Kandidatin Cortez Masto in Nevada nicht alles auf eine Karte, sondern versucht die komplexen Sorgen von Wählerinnen wie Joleen Reyes anzusprechen. Joellen arbeitet im „Cosmopolitan Hotel“ von Las Vegas und beklagt sich gegenüber einem örtlichen Reporter über hohe Benzinkosten und Lebensmittelpreise. Sie fühlt sich hin- und hergerissen. „Aber ich werde diesmal Demokraten wählen“, sagt sie. Den Ausschlag macht für sie der Zugang zu legalen Abtreibungen. „Mein Körper ist meine Angelegenheit.“

Das ist die Botschaft, die Cortez Masto auf ihrem Twitter-Konto festgeheftet hat. „Wir brauchen keinen männlichen Politiker, die uns Frauen sagen, was wir mit unseren Körpern tun oder nicht tun dürfen.“ Ob das reichen wird, genügend Wählerinnen zu mobilisieren, um ihren Sitz und vielleicht die Mehrheit der Demokraten im Senat zu verteidigen, bleibt die offene Frage.

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