Bilanz 100 Tage Barack Obama

Washington (RP). Der neue US-Präsident hat mit hohem Tempo viele Probleme angepackt. Beobachter beginnen, nach dem roten Faden zu suchen. Der Obama-Doktrin. Und sie fragen sich, was passiert, wenn Charme nicht mehr reicht - zum Beispiel im Atomstreit mit dem Iran. Über mangelndes Glück kann sich Obama indes nicht beklagen: Passend zum kleinen Jubiläum vergrößert sich seine Machtbasis im Senat.

Darum bekommt Obama den Nobelpreis
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Obama wird über Kontrast zu Bush definiert

Neulich bei David Letterman. Der Show-Meister der späten Stunde lässt Archivbilder einspielen, Bilder politischer Begegnungen. Erst flimmert Barack Obama über die Leinwand, wie ihm der Venezolaner Hugo Chavez ein Buch schenkt, "Offene Adern Lateinamerikas", und er sich höflich dafür bedankt. Szenenwechsel; nun pirscht sich George W. Bush von hinten an eine illustre Tagungsrunde heran. Überfallartig gräbt er seine Hände in die Schultern Angela Merkels, und während er zu massieren beginnt, wirft die Kanzlerin ihre Arme in mehr oder minder gespieltem Entsetzen nach oben. "So hat Bush die Leute begrüßt", kalauert Letterman und schwenkt zurück zum Handshake mit Chavez. "Und so begrüßt sie Obama. Ach, man muss den Kerl einfach mögen."

Die Talkshowgrößen, die Pointenerzähler — noch immer definieren sie die Nummer 44 im Weißen Haus am liebsten über den Kontrast zum Vorgänger. Wohlwollend-ironisch feiern sie einen Präsidenten, für den man sich nicht mehr zu schämen braucht, der weder ausländischen Honoratioren die Schultern massiert noch mit der englischen Sprache auf Kriegsfuß steht. Oder etwa doch? Neulich horchten alle auf. Obama sagte der Piraterie den Kampf an, und statt von "piracy" sprach er von "privacy". Ein Fauxpas à la Bush? Nun ja, man hat ihm den Ausrutscher schnell verziehen. Der sonst so eloquente Redner packt so viele Dinge gleichzeitig an, dass man über kleine Versprecher schon mal hinwegsehen kann. "Aktivistisches Regieren an allen Fronten", schreibt der "New Yorker", sei das Markenzeichen des Barack Obama.

Drei Monate mit Höllentempo

Er hat Bankenrettungspläne beschlossen, gegen konservativen Widerstand ein milliardenschweres Konjunkturpaket durchgesetzt und die Stammzellenforschung von Bushs Fesseln befreit. Er hat alternative Energien zur Priorität erklärt, beim Klimaschutz eine dramatische Wende vollzogen und die Pflege eines schwerkranken amerikanischen Patienten übernommen, der Autoindustrie Marke Detroit. Er hat Eisenbahnpläne für Hochgeschwindigkeits-Trassen skizziert, krisenverzagten Landsleuten Mut eingeimpft und weltpolitisch den Knopf mit der Aufschrift "Neustart" gedrückt. Russland ist wieder Freund, Kuba nicht mehr Feind. Ob die Offensive des Lächelns in Richtung Iran Früchte trägt, bleibt abzuwarten. Noch im Mai sollen die Regierenden Ägyptens, Israels und des Rumpfstaates Palästina im Oval Office vorm Kamin sitzen. Es ist das erste Signal, dass Obama in Nahost wieder die Rolle des ehrlichen Maklers zu spielen gedenkt, nachdem Bush in sieben seiner acht Amtsjahre jegliche Vermittlerrolle aufgegeben hatte.

In einem Satz, in gut drei Monaten hat der Ex-Senator aus Chicago ein Programm absolviert, wie es andere nicht in drei Jahren schaffen. Übernimmt er sich? Verliert er den Überblick? "Nein", sagen 56 Prozent der Amerikaner und halten das Höllentempo für angemessen. "Obama hat Verhandlungen zu einem außergewöhnlich breiten Spektrum von Themen in Gang gebracht", lobt sogar Henry Kissinger, der alte Stratege der realpolitischen Schule. Dämpfend, und ein wenig kryptisch, fügt er hinzu: "Jedes Thema birgt das Risiko, dass bloße Verhandlungstaktik die Substanz verzerrt." Dem Blitzstart müsse ein klarer Plan folgen, sonst drohe der Schwung des Neubeginns in Missverständnissen zu enden. Skeptiker bezweifeln, dass etwa im Atomstreit mit Iran schnelle Fortschritte möglich sind. Irgendwann komme Obama an eine Wegscheide, wo nette Worte nicht weiterhelfen.

Mag sein, aber noch steht alles im Zeichen des Honeymoons. Folgt man den Demoskopen von Pew Research, dann finden zwei von drei US-Bürgern Gefallen an der Art, wie sich ihr Präsident gibt, rein persönlich. Ähnlich populär war zuletzt nur Ronald Reagan. Aber was ist der rote Faden? Gibt es so etwas wie eine Obama-Doktrin? Die Bush-Doktrin war der präventive Militärschlag, das heißt, selbst dann anzugreifen, wenn auch nur der Verdacht einer Gefahr für die Vereinigten Staaten besteht. Der Nachfolger des Texaners hat, vielleicht nicht zufällig nach dem Handschlag mit Chavez, laut nachgedacht, für welche Philosophie das Etikett "Obamaismus" eigentlich steht. Wollte man es auf einen Nenner bringen, sagte er, dann stehe es am ehesten für eine Einsicht. "Wir sind zwar die stärkste und reichste Nation der Erde. Aber wir sind nicht die einzige Nation." Eine gute Idee sei auch dann gut, wenn sie aus einem kleinen Land komme. Man müsse anderen zuhören können. Auch Hugo Chavez.

Mehrheit im Senat wächst

Der Senator Arlen Specter aus Pennsylvania kündigte am Dienstag seinen Übertritt zu den Demokraten an - bisher hatte er zu den Republikanern gezählt. Mit dem Wechsel könnte Obamas Partei jene Mehrheit von 60 der 100 Senatssitze sicher sein, mit der sie jedes Gesetzesvorhaben auch gegen Widerstand der Republikaner durchsetzen kann.

Ob Obama tatsächlich auf die sogenannte Super-Mehrheit von 60 Senatoren kommt, hängt nun vom Ausgang eines Berufungsverfahrens zur Senatswahl im Staat Minnesota vom November ab. Die Wahlkommission und ein Gericht hatten den Demokraten Al Franken zum Sieger mit wenigen hundert Stimmen Mehrheit erklärt; sein republikanischer Gegner Norm Coleman ist dagegen in Berufung gegangen. Die meisten Beobachter räumen dem Republikaner dabei aber wenig Erfolgschancen ein. Franken wäre der ausschlaggebende 60. Demokrat im Senat.

(RP)
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