US-General über Afghanistan-Abzug „Bei uns allen bleibt Bitterkeit zurück“

Washington · Ein Jahr nach dem Ende des Rückzugs aus Afghanistans leiden viele beteiligte Soldaten unter Schuldgefühlen. Das Chaos am Flughafen von Kabul hat Spuren hinterlassen.

 US-Soldaten bewachen eine Absperrung am internationalen Flughafen in Kabul, Afghanistan (Archivfoto).

US-Soldaten bewachen eine Absperrung am internationalen Flughafen in Kabul, Afghanistan (Archivfoto).

Foto: dpa/-

Leutnant Timothy Williams hat miterlebt, was hunderte Millionen Menschen rund um den Erdball bloß auf Bildern sahen: Verzweifelte Menschen auf der Flucht von den neuen Taliban-Machthabern in Kabul, die den Flughafen stürmten, sich an startbereite C-17-Transportflugzeugen klammerten, um kurz darauf in den Tod zu stürzen. „Das war eines dieser Schlüsselereignisse“, sagt Williams, der zu den 6.000 Soldaten gehörte, die zu der größten Evakuierung seit Vietnam vor einem Jahr abkommandiert waren.

Williams gehört zu den 14 Soldaten, die an einem Projekt der „Washington Post“ mitgewirkt haben, das die chaotischen zwei Wochen vor dem Abzug am 31. August 2021 auf dem Flughafen in Kabul erinnert. „Bei uns allen bleibt Bitterkeit zurück, über das, was am Ende passierte“, sagt der Befehlshaber der Operation Marine-General Kenneth “Frank” McKenzie, der seit April dieses Jahres im Ruhestand ist und sich an dem Projekt beteiligte.

General McKenzie hatte die Aufgabe, den Abzug der letzten Amerikaner nach 20 Jahren Krieg in Afghanistan abzusichern. Unter seinem Kommandos retteten die US-Soldaten über 17 Tage rund 125.000 Menschen, die aus der von den Taliban überrannten Hauptstadt fliehen wollten. Zehntausende blieben zurück, als das letzte US-Flugzeug abhob.

Wie viele Menschen in den chaotischen Tagen des Rückzugs ums Leben kamen, lässt sich nicht genau sagen. General McKenzie hatte mit den Taliban eine Vereinbarung getroffen, die den neuen Machthabern die Kontrolle außerhalb des Flughafens überließ. Im Gegenzug garantierten die Turnschuh-Krieger, die Amerikaner bis Ende August auf dem Flughafen gewähren zu lassen.

Marine-Sergeant Tyler Vargas-Andrews erinnert sich, wie diese Vereinbarung ihn in Konfliktsituationen brachte. Vargas-Andrews machte Bilder lebloser Körpern von misshandelten Opfern der Taliban, die er seinen Vorgesetzten zeigte. “Wenn wir sie unter Beschuss nehmen, schießen sie auf uns“, hörte er als Antwort. „Wollen wir das in diesem Szenario?“

Damit gemeint war der Massenandrang einer panischen Menge, die sich mehr vor der Rückkehr der Taliban an die Macht als um ihr Leben sorgten. Ein wesentlicher Teil der Aufgabe der US-Soldaten bestand darin, die Zugänge zu dem Flughafen zu kontrollieren und dafür zu sorgen, dass nur Personen mit gültigen Papieren durchkamen.

„Wir mussten sicher sein, dass keiner einen Sprengsatz in ein Flugzeug bringt“, beschreibt General McKenzie die Situation. Eine Explosion mit hunderten Menschen in der Luft wäre verheerend gewesen.

Feldwebel Vargas-Andrews behauptet, er habe von seinem Wachturm aus, einen Mann am „Abbey Gate“ gesehen, der wie ein Selbstmord-Attentäter aussah. Die alarmierten Vorgesetzten lehnten seine Anfrage ab, den Verdächtigen auszuschalten. Die Begründung: Es seien zu viele Zivilisten in der Nähe. Bis heute macht sich Vargas-Andrews Vorwürfe, nicht hartnäckiger gewesen zu sein. Denn kurz nachdem er von seinem Wachturm geklettert war, kam es zu einer gewaltigen Explosion.

Mindestens 170 Afghanen und dreizehn seiner Kameraden kamen bei dem Selbstmordanschlag vom 26. August ums Leben. „Es ist schwer damit umzugehen“, sagt Vargas-Andrews, der selber nur knapp mit dem Leben davonkam. Er verlor seinen rechten Arm, das linke Bein, eine Niere und Teile seines Verdauungstrakts. Nach 43 Operationen hat er noch immer Metallfragmente des Sprengsatzes in seinem Körper. Trotz seines eigenen Schicksals plagen ihn Schuldgefühle.

General McKenzie teilt diese. Neben dem Anschlag vom Abbey Gate verfolgt ihn ein befohlener Drohnenangriff drei Tage später, bei dem zehn Zivilisten ums Leben kamen. Letztlich sei all dies die Konsequenz von Entscheidungen gewesen, die weit oberhalb seiner Ebene getroffen worden seien.

Auch Vargas-Andrews versucht sein Trauma zu rationalisieren. Er erinnert sich an eine Situation, in der er eine Familie wiedervereinigen und zur Flucht verhelfen konnte. „Wenn ich jeden Tag auf meine Verletzungen schaue, muss ich an die eine Familie denken, die heute ihr Leben zurück hat“. Es habe viele solcher Momente gegeben, sagt er der Washington Post. „Das hat meinem Einsatz Sinn verliehen.“

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