„Brotkorb Europas“ Verbrannte Ernte - Landwirtschaft an der ukrainischen Front

Nowomykolajwka · Der Agrarsektor ist eine wichtige Säule der ukrainischen Wirtschaft. Aber der russische Angriffskrieg hat die Branche schwer getroffen - und vor allem Bauern nahe der Front leiden.

Viktor Lubinets, Agronom auf der Farm Veres, schaut auf den Rauch, der nach einer Explosion in Nowomykolaiwka in die Luft steigt.

Viktor Lubinets, Agronom auf der Farm Veres, schaut auf den Rauch, der nach einer Explosion in Nowomykolaiwka in die Luft steigt.

Foto: dpa/Leo Correa

Eine nicht explodierte Rakete ragt aus einem Acker, eine andere hat sich auf dem Hof in die Erde gebohrt. Arbeiter haben beim Entfernen von Unkraut eine Streubombe gefunden, und im Dach des von Granatsplittern zernarbten Viehstalls klafft ein Loch. Alle Arbeiten sind auf diesem großen Bauernhof im Osten der Ukraine zum Erliegen gekommen, die Felder und Gebäude so häufig von Granaten, Raketen und Streubomben getroffen worden, dass es den Arbeitern nicht möglich ist, auf dem von Kratern zerlöcherten Land noch etwas zu säen oder zu ernten.

Wieder zum normalen Betrieb zurückzukehren, „wird schwierig sein, sehr schwierig“, sagt Viktor Lubinez, der auf dem Veres-Bauernhof für den Pflanzenanbau zuständig ist. Sogar wenn die Kämpfe aufhören würden, müssten die Äcker erst einmal von Blindgängern und Granatsplittern gesäubert werden.

Aber das scheint in weiter Ferne zu liegen. Der Lärm eines heranfliegenden Geschosses durchdringt die Luft, die Explosion in der Nähe erschüttert den Boden und lässt schwarzen Rauch aufsteigen. Lubinez zeigt kaum eine Reaktion. „Ich habe mich daran gewöhnt. In den ersten Tagen war es beängstigend, aber jetzt - ein Mensch kann sich an alles gewöhnen“, sagt der 55-Jährige. Und all das hier im Stich zu lassen, ist keine Option: „Was würde dann geschehen?“

Das Agrarwesen ist ein äußerst wichtiger Teil der ukrainischen Wirtschaft, machte nach UN-Angaben vor dem Krieg etwa 20 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und 40 Prozent der Exporteinkünfte aus. Das Land wird oft als „Brotkorb Europas“ bezeichnet, und in Afrika, Nahost und Teilen Asiens sind Millionen Menschen auf die Versorgung mit preisgünstigem Getreide und Sonnenblumenöl aus der Ukraine angewiesen.

Der russische Angriffskrieg, der am 24. Februar begann, hat die Agrarwirtschaft schwer getroffen: verwüstete Felder, zerstörte Maschinen und Vorratslager und gewaltige Hürden für Transport und Export. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UN (FAO) schätzte im Juli die bis dahin entstandenen Schäden für die Branche auf umgerechnet etwa 4,3 Milliarden bis 6,4 Milliarden Euro - was 15 Prozent bis 22 Prozent des gesamten Wertes des ukrainischen Agrarsektors vor dem Krieg entspricht.

Der Veres-Bauernhof ist ein krasses Beispiel für die Verluste. Die 5700 Hektar Land produzieren normalerweise Weizen, Gerste, Mais und Sonnenblumen, und der Viehbestand umfasste vor dem Krieg 1500 Tiere. Aber die Lage des Hofes machte ihn besonders anfällig für Artilleriefeuer: Er befindet sich auf einer fast direkten Linie zwischen der strategisch wichtigen Stadt Isjum - Anfang April von den Russen besetzt und kürzlich von der Ukraine zurückerobert - und Kramatorsk, der größten Stadt im östlichen Gebiet Donezk, die weiter unter ukrainischer Kontrolle ist.

Der Bauernhof-Komplex ist Lubinez zufolge 15 bis 20 Mal getroffen worden, und er hat aufgehört zu zählen, wie viele Geschosse auf den Feldern eingeschlagen sind. Das Vorratslager für Getreide wurde beschädigt, die Vorrichtung zur Stromerzeugung zerstört, und Raketen hagelten auf den Viehstall herab - der leer steht, denn die Tiere wurden verkauft, als der Krieg begann. Hatte der Hof einst 100 Beschäftigte, sind nach Evakuierungen nur noch etwa 20 verblieben.

Arbeiter schafften es noch, Weizen anzubauen, aber sie hatten keine Zeit mehr, ihn zu ernten. Das Feld brannte während eines Bombenangriffes am 2. Juli ab. Lubinez war am Boden zerstört, als Agrarwissenschaftler hatte er sich darauf gefreut, das Ergebnis des Anbaus von fünf neuen Weizenarten zu studieren. Nun sei alles kaputt, sagt er. „Wie kann ich mich da schon fühlen? Wie kann sich ein Mensch fühlen, der etwas tun wollte, aber jemand kam und hat es ruiniert?“

Einige Bauernhöfe in der Gegend hatten mehr Glück. Knapp zehn Kilometer südwestlich von Nowomykolajwka bewegt sich eine Erntemaschine auf einem Feld auf und ab, schneidet getrocknete Sonnenblumen von ihren Stielen und schüttet die schwarzen Kerne auf wartende Lastwagen. Aber auch hier ist der Krieg sichtbar. Die Maschine ist von Splittern einer explodierten Rakete zerschrammt, ein nahe gelegenes Feld ist vermint. Hubschrauber knattern über den Sonnenblumen und dem Mais, Kampfflugzeuge streifen niedrig über die Ebenen hinweg.

Sergij Kurinnyj ist Chef des 3640 Hektar umfassenden KramAgroSwit-Bauernhofes. Es sei riskant gewesen, im Mai Sonnenblumen anzupflanzen, sagt er, denn man habe nicht gewusst, ob die Frontlinie die Felder erfassen würde. „Wir konnten mit unseren bloßen Augen den Militäreinsatz sehen...Aber wir haben uns dafür entschieden, das Risiko einzugehen.“

Es hat sich ausgezahlt, der Ernteertrag aus den 1308 Hektar an Sonnenblumen fiel ansehnlich aus. Es wurden auch Weizen, Gerste und Hirse angebaut. 27 Hektar mit Weizen gingen durch ein von einer Bombe ausgelöstes Feuer verloren, aber der Rest konnte geerntet werden.

Im April tötete eine Rakete 38 der 1250 Kühe und Rinder auf dem Hof, der größte Teil der verbliebenen Herde wurde danach verkauft. Eine andere Rakete traf ein Lager für Ausrüstung und richtete Schäden an mehreren Maschinen an. Kurinnyj schätzt die Ernte- und Viehverluste auf umgerechnet etwa 300.000 Euro.

Die derzeitige ukrainische Gegenoffensive drückt die Front weiter ostwärts, das macht Kurinnyj zuversichtlicher, dass es mit dem bevorstehenden Winteranbau klappen wird. Aber für Lubinez und die anderen verbliebenen Beschäftigten auf dem schwer beschädigten Veres-Hof liegt eine Rückkehr auf die Felder nach wie vor in weiter Ferne.

„Wir hatten vor diesem Krieg ruhig gelebt, wir hatten gearbeitet, wir hatten...etwas erreicht, waren bestrebt, etwas zu tun - und nun was?“ fragt er. „Alles ist beschädigt, alles zerstört worden, und wir müssen all dies wiederaufbauen, bei Null anfangen.“

(peng/dpa)
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