Beweise für Kriegsverbrechen Spurensuche in den Trümmern von Charkiw

Charkiw · Ein Loch in der Wand, Überreste eines Projektils, Brandspuren: Stockwerk für Stockwerk untersuchen ukrainische Staatsanwälte zerbombte Häuser. Sie wollen etwaige Kriegsverbrechen aufdecken - und sammeln Beweise.

 Das Team der Staatsanwaltschaft von Charkiw untersucht Beweise in einer Wohnung eines zerbombten Wohnhauses im Viertel Saltiwka.

Das Team der Staatsanwaltschaft von Charkiw untersucht Beweise in einer Wohnung eines zerbombten Wohnhauses im Viertel Saltiwka.

Foto: AFP/GENYA SAVILOV

„Hier war die Küche, hier das Badezimmer und hier die Toilette“, erklärt Mykola Tymtschenko den Staatsanwälten. Der 70-Jährige führt die Juristen durch die Ruine seiner Wohnung in Saltiwka, eine Hochhaussiedlung im Nordosten der ukrainischen Metropole Charkiw. Die Staatsanwaltschaft untersucht den Wohnblock um festzustellen, ob es sich bei der Zerstörung um ein Kriegsverbrechen handelt.

Ein russischer Luftangriff traf das Gebäude und setzte es in Brand. Möbel, Matratze, Bilder - alles in Tymtschenkos Wohnung ist verbrannt. „Letztes Jahr habe ich meine Frau verloren. Und jetzt die Wohnung“, klagt er. „Es hat Jahre gedauert, sie abzubezahlen.“

Umringt von den einstigen Bewohnern inspizieren die Staatsanwälte Stockwerk um Stockwerk. Die Menschen hoffen vergeblich, von den Beamten Zusagen für eine Entschädigung zu bekommen.

Im benachbarten Treppenhaus sind die Schäden geringer. Die Wohnung von Oleksandr Ryabokone ist mit Glasscherben und Mauerstücken übersät, doch das Inventar ist heil geblieben. Der 30-Jährige hat das Wichtigste in weiße Säcke gepackt, um es vor „Dieben und Plünderern“ in Sicherheit zu bringen. Das Gemälde seiner Urgroßmutter hat er in Folie gehüllt.

„Das Gebäude ist in einem gefährlichen Zustand. Wir können hier nicht mehr wohnen und wissen nicht, ob es abgerissen werden muss“, sagt der Familienvater. „Ich weiß nicht, was man mir für einen solchen Schaden zahlen kann,“ fragt sich Ryabokone und hofft, dass die Behörden seiner Familie zumindest eine neue Unterkunft zuweisen.

Ganz oben im Gebäude untersuchen die Staatsanwälte neben einem klaffenden Loch in der Wand die Überreste eines Projektils. „Ein Experte wird feststellen, um was für ein Geschoss es sich handelt“, sagt Oleksandr Glebow von der Staatsanwaltschaft Charkiw. „Es ist noch nicht klar, ob auf Zivilisten gezielt wurde oder ob es sich um einen Fehlschuss handelt“, kommentiert er zurückhaltend - obwohl seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine hunderte Geschosse im Viertel einschlugen.

Krieg Ukraine: Schwere Angriffe auf Charkiw - Fotos
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Schwere Angriffe auf Charkiw

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Foto: dpa/Uncredited

Ende Februar erreichten die russischen Truppen den Stadtrand von Charkiw, der nur etwas mehr als 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt liegt. Der ukrainischen Armee gelang es, die Invasoren zurückzudrängen. Inzwischen konzentriert Moskau seinen Angriff hauptsächlich auf andere Orte im Osten der Ukraine. Aber immer noch wird Saltiwka regelmäßig beschossen. Vor dem Krieg lebten mehr als 500.000 Menschen in dem Viertel, die meisten von ihnen flohen.

Den einstigen Bewohnern des zerstörten Wohnblocks, die noch vor Ort sind, stellen die Juristen bei ihrer Inspektion dieselbe Frage: „Gab es in Ihrer Nähe militärische Ziele?“ Auch wenn die Untersuchung noch nicht abgeschlossen ist, ist sich Staatsanwalt Oleksandr Arseni sicher: „Das sind Kriegsverbrechen. Alle Menschen, die hier gelebt haben, sind Opfer.“

(peng/AFP)
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