Ukraine-Krise Flucht aus Russland

Moskau · Der Krieg war für viele Russen bisher weit weg. Das ändert sich nun. Viele Reservisten verstecken sich oder verlassen das Land, um nach der angekündigten Teilmobilmachung nicht eingezogen zu werden.

 Am Übergang Nuijamaa an der finnischen Grenze bilden sich Autoschlangen, weil viele Russen nach Putins Ankündigung einer Teilmobilmachung ins Nachbarland flüchten.

Am Übergang Nuijamaa an der finnischen Grenze bilden sich Autoschlangen, weil viele Russen nach Putins Ankündigung einer Teilmobilmachung ins Nachbarland flüchten.

Foto: dpa/Lauri Heino

(dpa) Hundertschaften des Sicherheitsapparats von Kremlchef Wladimir Putin prügeln in vielen Städten die größten Anti-Kriegs-Proteste in Russland seit Monaten nieder. Nach spontanen Straßenaktionen gegen die von Putin verfügte Teilmobilmachung sind noch immer mehr als 1000 Menschen in Gewahrsam. Trotzdem ziehen die Behörden des Landes mit aller Härte den Erlass durch, nun mindestens 300.000 Reservisten für den Krieg in der Ukraine einzuziehen.

Erstmals aber erfasst der seit sieben Monaten dauernde Angriffskrieg Putins gegen das Nachbarland nun auch Russen und ihre Familien, die unfreiwillig in das Blutvergießen hineingezogen werden. Bisher setzte Putin auf Freiwillige. Jetzt ist der Krieg, der weiter offiziell nur „militärische Spezialoperation“ heißen soll, allgegenwärtig.

Viele erhielten den roten Zettel mit der Aufforderung, sich im Wehrkreiskommando einzufinden, schon am Mittwoch – kurz nach Putins im Fernsehen angekündigter Teilmobilmachung. Der Präsident betonte, dass eine Frontlinie von 1000 Kilometern entlang der besetzten Gebiete gesichert werden müsse. Es geht aus seiner Sicht um einen Kampf für Russlands Überleben.

Der Krieg war für viele Russen bisher weit weg. Nun sollen die Bürger des Landes an die Waffe gezwungen werden. Zwar haben viele Menschen in Russland bisher eher gleichgültig dem Krieg zugesehen und Putin Rückhalt bescheinigt. Aber die Stimmung könnte nun kippen. Umfragen zeigten nie eine große Bereitschaft der Bürger, selbst gegen ukrainische Brüder und Schwestern in den Kampf zu ziehen.

Auch deshalb stürmten viele Russen nicht nur zu spontanen Protestkundgebungen auf die Straßen, sondern auch zu den Flughäfen, um etwa nach Armenien und in die Türkei zu fliegen. Tausende schafften es. Die Flüge sind aber auf Tage hinaus ausgebucht, andere Ziele weiter weg kaum bezahlbar. Ein Flug etwa nach Taschkent in Usbekistan für Donnerstagabend kostete 3000 Euro. An den Grenzen zu Finnland, wohin es nur mit Visum geht, oder in die Südkaukasusrepublik Georgien bildeten sich kilometerlange Schlangen.

Schon nach Beginn von Putins Invasion in die Ukraine im Februar hatten viele Russen Exil im Ausland gesucht. Aber ist von Panik die Rede. In Moskau erzählt ein 41 Jahre alter Mann, dass er gar keine Kampferfahrung oder echte Militärausbildung habe. Aber er ist Leutnant der Reserve. Weil er in einer anderen russischen Zeitzone gemeldet ist, müsste ihm dort an seinem Wohnort der Einberufungsbescheid gegen Unterschrift übergeben werden. Die Meldeadresse ist weit weg. „Ich werde auf gar keinen Fall in diesem sinnlosen Krieg Putins kämpfen, ich gehe lieber ins Gefängnis“, sagt der Ingenieur. Er hat Angst, dass er bei einem Ausreiseversuch festgehalten und direkt in die Ukraine geschickt wird: „Verstecken ist ein Ausweg. Aber die Unsicherheit ist das Schlimmste, man traut sich kaum auf die Straße“, sagt er auch mit Blick auf die Proteste in Moskau.

Hunderte Festnahmen gab es allein in der russischen Hauptstadt am Mittwoch, als die Proteste gewaltsam niedergeschlagen wurden. Kremlsprecher Dmitri Peskow bezeichnete es als rechtens, dass dort Festgenommenen direkt auch der Einberufungsbescheid überreicht wurde. Die Diskussion darüber, was rechtens ist und was nicht, füllt inzwischen ganze Internetportale. Viele suchen nach Auswegen, die Einberufung zu umgehen. Juristen geben viel Rat. Aber unterm Strich gibt es auch immer wieder die Ansage, dass in einem autoritären Staat mit Justizwillkür eben keine Rechtssicherheit bestehe.

Die Bundesregierung zeigt sich offen für die Aufnahme von russischen Kriegsdienstverweigerern. Dass sich viele nicht an dem Krieg beteiligen wollten, sei ein gutes Zeichen, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit. Es zeichne sich ab, dass es auch eine Fluchtbewegung nach Westen gebe. (mit rtr)

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