Kriegsverbrechen in der Ukraine Vergewaltigung als Waffe

Analyse | Düsseldorf · Sexualisierte Gewalt gegen Frauen zählt zu den niederträchtigsten Kriegsverbrechen. Sie wird systematisch betrieben, um das Leben der Betroffenen und ihrer Familien über das Ende von Kämpfen hinaus zu zerstören.

 Eine Frau zeigt in Berlin ihren Protest gegen die russische Gewalt in der Ukraine.

Eine Frau zeigt in Berlin ihren Protest gegen die russische Gewalt in der Ukraine.

Foto: AP/Markus Schreiber

Sie war gerade 13 Jahre alt, als sie kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs Opfer eine Gruppenvergewaltigung durch russische Soldaten wurde. Damals hieß sie noch Hannelore Renner, später Hannelore Kohl. Die Männer hätten sie anschließend „wie einen Sack Zement“ aus dem Fenster geworfen, bekannte die frühere Kanzlergattin, als sie – Jahrzehnte nach der Tat – ihr Schweigen dazu brach.

Mag sein, dass die in Schüben wiederkehrende Erinnerung an das Grauen dazu beitrug, dass Hannelore Kohl stets auf ein makelloses Erscheinungsbild bedacht war, welches das Gefühl der Erniedrigung womöglich überdecken sollte. Hätten jene, die sie als „Barbie aus der Pfalz“ belächelten, die ganze Wahrheit gekannt, hätten sie wohl geschwiegen. Wegen der damals erlittenen Rückenverletzung war Hannelore Kohl zeitlebens auf Schmerzmittel angewiesen. Wie viel das seelische Trauma dazu beitrug, dass sie, die später an einer Lichtallergie erkrankte, sich im Juli 2001 das Leben nahm, darüber kann nur spekuliert werden.

Auch jetzt ist nicht bekannt, welche Erinnerungen bei den heute noch lebenden Frauen wach werden, denen es damals so wie Hannelore Kohl ergangen war, wenn sie jetzt die Berichte von einer mordenden, folternden und vergewaltigenden russischen Soldateska in der Ukraine verfolgen. Bei wie vielen Frauen, die ihren Vergewaltigern in den Kriegen in Bosnien und Herzegowina, in Ruanda, in Äthiopien, in Syrien entkommen und nach Deutschland fliehen konnten, kommen ähnlich furchtbare Erfahrungen hoch? Bei wie vielen, die einst der deutschen Wehrmacht in die Hände fielen? Gewiss ist nur: Solcher Schrecken und solches Leid bleiben gegenwärtig, auch wenn sie sich in der Vergangenheit zugetragen haben. Opfer sind und waren Frauen in militärischen Konflikten auf der ganzen Welt, sie sind alt und jung, sie beweinen ihr Los nicht weit entfernt von hier, und sie leben hier, mitten unter uns.

Vergewaltigung zählt zu den niederträchtigsten Verbrechen im Krieg, sie steht einerseits für die Allmachtsphantasien von Eroberern, andererseits wird sie zur Erniedrigung der Besiegten systematisch betrieben. Vielfach ist dem die militärische Blamage des Aggressors vorausgegangen. Die russische Armee ist, was die militärischen Erfolge betrifft, weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben.

Vor allem wird Vergewaltigung in den rechtsfreien Räumen vollständiger Zerstörung selten geahndet. Sexualisierte Gewalt stellt wie der Krieg selbst eine der größten Normverletzungen dar, Sie ist eine Waffe von Kämpfern, die sich stets gegen die Schwächsten und Wehrlosesten richtet. Sie gehört damit zum Furchteinflößendsten, was der heranrückende Feind auf die Zivilbevölkerung ausüben kann.

„Was wir in Butscha gesehen haben, ist nicht die wahllose Tat einer einzelnen Schurken-Einheit“, befand denn auch US-Außenminister Antony Blinken nach Bekanntwerden von offensichtlichen russischen Kriegsverbrechen in der ukrainischen Stadt 25 Kilometer nordwestlich von Kiew. „Es ist eine bewusste Kampagne zu töten, zu foltern, zu vergewaltigen und Gräueltaten zu verüben.“

Der Wahrheitsgehalt der schockierenden Bilder von nackten Frauenleichen, die drastischen Schilderungen von zum Teil sehr jungen Betroffenen, denen aktuell unter anderem die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch nachgeht, lässt sich ad hoc nicht eindeutig überprüfen. Aber vieles erinnert an das, was an Entführung, Folter und Vergewaltigung durch das russische Militär aus dem Zweiten Tschetschenienkrieg bekannt wurde. Demnach wurden damals auch gefangene Männer in Lagern nahe der Hauptstadt Grosny gezwungen, sich untereinander zu vergewaltigen.

„Vergewaltigung ist eine Kriegswaffe“, warnte nicht zuletzt die britische Botschafterin in der Ukraine, Melinda Simmons, als könne man die furchtbare Wahrheit nicht oft genug beim Namen nennen. „Obwohl wir das Ausmaß in der Ukraine noch nicht kennen, ist bereits klar, dass sie Teil des russischen Waffenarsenals ist.“ Simmons zeigte sich schockiert von der Brutalität. „Frauen wurden vor ihren Kindern vergewaltigt, Mädchen vor ihren Familien.“

Butscha: Fotos von Zerstörung in Stadt nahe Kiew - EU spricht von einem "Massaker"
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Russische Armee hinterlässt Spur der Zerstörung in Butscha

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Foto: dpa/Rodrigo Abd

Genau das ist die Absicht, die hinter sexualisierte Gewalt im Krieg steht: das Leben der Betroffenen und ihrer Familien so zu zerstören, dass sie selbst dann keinen Frieden finden werden, wenn längst wieder Frieden herrscht. Die systematische Vergewaltigung von Frauen zerreißt Gemeinschaften und emotionale Bindungen, sie führt in nicht wenigen Kulturkreisen zur anschließenden Ächtung des ohnehin schon erniedrigten Opfers. Weshalb viele von ihnen aus Scham nie über das sprechen, was ihnen angetan wurde.

„Unsere Körper sind euer Schlachtfeld“, lautet der Titel eines Buches der britischen Journalistin Christina Lamb, in dem sie die Schicksale von Sex-Sklavinnen des IS, von in den Balkan-Kriegen oder in Nigeria Vergewaltigten und von „Trostfrauen“ zusammengetragen hat, die von japanischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg systematisch missbraucht wurden. Man kann die Lektüre nur Lesern empfehlen, die in der Lage sind, das beschrieben Unrecht psychisch auszuhalten.

Seit dem 1. Juli 2002 wird sexuelle Gewalt erstmals in der Geschichte des Völkerstrafrechts explizit als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und als Kriegsverbrechen benannt. Auch wenn es mühsam bleibt: Die Täter müssen dafür büßen.

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