Ukraine-Krise Biden warnt vor „sehr hoher Gefahr“ einer russischen Invasion

Washington · Die Hoffnung auf eine diplomatische Lösung der Ukraine-Krise weicht Ernüchterung über das tatsächliche Geschehen vor Ort. US-Behörden rechnen mit einer Attacke in den kommenden Tagen. Die USA drängen Wladimir Putin, den Frieden zu bewahren.

 US-Präsident Joe Biden.

US-Präsident Joe Biden.

Foto: AP/Alex Brandon

Angesichts der wachsenden Kriegsgefahr in Osteuropa haben die USA eine diplomatische Offensive an mehreren Fronten gleichzeitig gestartet. Vor dem Hintergrund des bestätigten Eingangs eines Antwortschreibens aus dem Kreml zu den Forderungen nach Sicherheitsgarantien durch die Nato, dem Beschuss einer ukrainischen Ortschaft bei Luhansk und der Verlegung weiterer Soldaten an die Grenze zur Ukraine, warnte US-Präsident Joe Biden eindringlich vor einem bevorstehenden Einmarsch russischer Truppen. Die Gefahr einer Invasion sei „sehr hoch“, erklärte Biden vor dem Weißen Haus.

Seiner Einschätzung nach könne es trotz anderslautender Versicherungen aus Moskau bereits „in den nächsten paar Tagen“ dazu kommen. Es gebe Hinweise auf eine von Russland gestellte Operation, die den Vorwand für einen Angriff liefern könnte. Die jüngsten militärischen Aktivitäten prorussischer Separatisten im Osten der Ukraine haben diese Sorge verstärkt.

Der US-Präsident sagte, er habe Außenminister Antony Blinken kurzfristig zu einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates nach New York geschickt. Die Möglichkeit einer diplomatischen Lösung bestünde weiterhin. „Es gibt einen Weg.“

Blinken wiederholte im Weltsicherheitsrat die Erwartung einer bevorstehenden Invasion „in den kommenden Tagen“. Es gebe keinen Beweis für einen Rückzug der Truppen. Während Russland die Warnungen der USA herunterspiele, haben es „kontinuierlich 150.000 Soldaten an der Grenze zusammengezogen“. Der US-Außenminister legte dann verschiedene Szenarien für den Beginn einer Invasion dar, die in den vergangenen Tagen bereits an die Medien lanciert worden waren.

Blinken äußerte sich zu Zweifeln an der Verlässlichkeit amerikanischer Geheimdienstinformationen und nahm dabei Bezug auf die vor dem Irak-Krieg bei den Vereinten Nationen präsentierten Behauptungen über Saddam Husseins angebliche Massenvernichtungswaffen. Er sei gekommen „um einen Krieg zu verhindern, nicht einen zu beginnen“. Falls es nicht zu einem Einmarsch komme, seien die USA erleichtert, falsch zu liegen. „Diplomatie ist der einzige Weg diese Krise zu lösen“.

Blinken und US-Vizepräsidentin Kamala Harris werden zur Münchener Sicherheitskonferenz erwartet, bei der sie über die kommenden Tage mit den Verbündeten das weitere Vorgehen beraten wollen. Das deutsche Außenministerium teilte mit, dass am Rande der Konferenz ein Krisentreffen der Außenminister der Staaten der sieben wichtigsten Industrienationen – der G-7 – angesetzt ist.

„Die Situation ist fließend“, erklärte ein hoher Mitarbeiter der US-Regierung zu Notfallplänen für den Fall einer russischen Invasion in den kommenden Tagen. Die Sicherheitskonferenz erlaube eine enge Abstimmung, da dort drei Dutzend Regierungschefs anwesend seien. „Das ist ein entscheidender Moment.“ Erstmals seit zwanzig Jahren schickt Russland keinen Vertreter nach München.

Ebenfalls am Donnerstag berieten die Verteidigungsminister der Nato sowie die EU-Regierungschefs in Brüssel. US-Verteidigungsminister Lloyd J. Austin widersprach bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Brüssel der Behauptung Putins, wonach ein Teilrückzug begonnen habe.

„Es ist nicht so lange her, dass ich selber Soldat war“, erklärte der pensionierte Viersterne-General der Army. Was er an der Grenze zur Ukraine sehe, sei ein weiterer Aufmarsch russischer Truppen, inklusive der Verlegung von Kampfflugzeugen und einer Aufstockung der Blutreserven für die Feldlazarette. „Sie machen so etwas nicht ohne Grund. Gewiss nicht, wenn sie sich darauf vorbereiten, zusammenzupacken und nach Hause zu gehen.“

Klare Worte des Pentagon-Chefs, der damit die namenlose Einschätzung durch einen „hohen Mitarbeiter“ des Weißen Hauses bestätigte. Dieser hatte gegenüber Reportern Russland der Lüge bezichtigt. Während das russische Verteidigungsministerium Bilder von abziehenden Streitkräften veröffentlicht, seien tatsächlich weitere 7.000 Soldaten an die ukrainische Grenze verlegt worden. „Sie bieten öffentlich Gespräche an und stellen Behauptungen über eine Deeskalation auf, bereiten aber gleichzeitig einen Krieg vor.“

Öffentlich zugängliche Satelliten-Aufnahmen belegen laut den privaten Sicherheitsanalysten von „Rochan Consulting“, dass Russland seit seiner Rückzugsankündigung tatsächlich weitere Züge mit militärischem Nachschub an die Grenze verlegt hat. Kreml-Sprecher Dmitri S. Peskow insistierte darauf, dass Moskau Streitkräfte abziehe. „Dieser Prozess braucht Zeit. Sie können nicht einfach in die Luft gehoben werden und wegfliegen.“

Die russische Nachrichtenagentur RIA berichtet unter Berufung auf das am Donnerstag übermittelte Antwortschreiben auf die US-Vorschläge zu Sicherheitsgarantien, Moskau bestehe auf dem vollständigen Abzug der US-Truppen aus Mittel- und Osteuropa. „Wir sind überzeugt, dass das nationale Potenzial in diesen Zonen völlig ausreichend ist“, zitiert das halb-offizielle Agentur aus dem Schreiben. Eine Deeskalation erfordere, dass sich die Ukraine an das Minsker Abkommen halte. Ohne die geforderten Sicherheitsgarantien sähe sich Moskau „gezwungen zu reagieren, einschließlich mit militärisch-technischen Mitteln“.

Nach Ansicht von Analysten bekräftigen die Formulierungen in der russischen Antwort sie Zweifel an dem behaupteten Teilrückzug. Das offene Misstrauen in Washington gegenüber den Versicherungen aus Moskau hat auch mit Erfahrungen aus der Vergangenheit zu tun. So gab es 2008 russische Berichte über den Abzug der letzten Truppen aus einer Rebellenhochburg in Georgien. Nur wenige Tage später griffen russische Truppen das Land an.

Unklar blieb, warum Russland am Donnerstag den stellvertretenden US-Botschafter in Moskau, Bartle Gorman, ausgewiesen hat. Amerikanische Offizielle erklärten gegenüber der New York Times, dieser Schritt könnte es erschweren, eine diplomatische Lösung für die Krise zu finden.

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