Überblick aus der Nacht Ukraine berichtet von großem russischen Truppenaufmarsch

Kiew · Russlands Großoffensive im Osten der Ukraine ist nach Einschätzung des Pentagon nur der Auftakt größerer Attacken. In Deutschland streiten Politiker über Waffenlieferungen. Ein Überblick zum Geschehen in der Nacht.

 Ein prorussischer Soldat einer Miliz aus Donezk vor einer zerstörten Moschee in Mariupol.

Ein prorussischer Soldat einer Miliz aus Donezk vor einer zerstörten Moschee in Mariupol.

Foto: dpa/Alexei Alexandrov

Die Ukraine sieht sich im Osten des Landes mit einem massiven russischen Truppenaufmarsch konfrontiert. „Jetzt ist praktisch der gesamte kampfbereite Teil der russischen Armee auf dem Territorium unseres Staates und in den Grenzgebieten Russlands konzentriert“, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer Videobotschaft, die in der Nacht zum Mittwoch auf Telegram veröffentlicht wurde. Russland setzte den Verteidigern der eingekesselten Stadt Mariupol eine weitere Frist. In Deutschland geht unterdessen die Debatte um die Lieferung schwererer Waffen weiter.

Prorussische Gruppierungen der Region Luhansk haben eigenen Angaben auf Telegram zufolge die Kleinstadt Kreminna im Osten der Ukraine eingenommen. Auf einem angehängten Video ist zu sehen, dass auf der Eingangstür der Stadtverwaltung eine russische Fahne hängt. Laut der jüngsten Analyse des US-Kriegsforschungsinstituts ISW war der Vorstoß nach Kreminna die einzige russische Bodenoffensive binnen 24 Stunden, die „signifikante Fortschritte“ gemacht habe.

Allerdings bildet die neue russische Offensive im Osten der Ukraine nach Einschätzung des US-Verteidigungsministeriums nur den Auftakt größerer Attacken. Aktuell konzentrierten sich die russischen Truppen auf Gebiete südwestlich der Stadt Donezk und südlich der Stadt Isyum, teilte ein ranghoher Mitarbeiter im US-Verteidigungsministerium am Dienstag mit. Russland unternehme Schritte, um seine Kampffähigkeit im Donbass in der Ostukraine zu verbessern. Es gehe Moskau darum, sich auf größere Offensiven in der Zukunft vorzubereiten.

Nach US-Schätzungen hat das russische Militär seit Invasionsbeginn rund 25 Prozent seiner Kampfkraft verloren. Daher würden russische Bodentruppen für Vorstöße in die Ukraine neu ausgerüstet.

Auch nach Erkenntnissen des Londoner Verteidigungsministeriums verstärkt die russische Armee entlang der Demarkationslinie zum Donbass in der Ostukraine die Angriffe. Die Ukraine wehre aber zahlreiche Vorstöße russischer Truppen ab, teilte das britische Verteidigungsministerium am Dienstagabend unter Berufung auf Geheimdienstinformationen mit. Russische Fortschritte würden weiterhin durch das Gelände sowie logistische und technische Schwierigkeiten behindert. Dazu komme auch die Widerstandsfähigkeit der hochmotivierten ukrainischen Armee.

Moskau kündigte am Dienstagabend eine neue Frist für die in einem Stahlwerk verschanzten letzten Verteidiger in Mariupol an. Generaloberst Michail Misinzew kündigte eine einseitige Feuerpause für Mittwoch, 14.00 Uhr Moskauer Zeit (13.00 Uhr MEZ) an. Im Zuge dieser Feuerpause sollten sich ukrainische Kämpfer ergeben und Zivilisten könnten evakuiert werden, heißt es der Mitteilung des russischen Generaloberst. Frühere Ultimaten an die Verteidiger ließen diese verstreichen. Russland will die strategisch wichtige Hafenstadt komplett unter Kontrolle bringen.

Die dort noch ausharrenden ukrainischen Truppen schilderten am frühen Mittwochmorgen ihre Lage in dramatischen Worten. „Wir sehen hier vielleicht unseren letzten Tagen, wenn nicht Stunden entgegen“, sagte der Marinekommandant Serhij Wolyna in einem Video im Onlinenetzwerk Facebook. „Der Feind ist uns in einem Verhältnis von 10:1 überlegen.“

Westlichen Schätzungen zufolge setzt Russland beim Angriff auf die Ukraine zwischen 10.000 und 20.000 Söldner ein. Bei den Söldnern handele es sich um Mitglieder der berüchtigten russischen Wagner-Gruppe sowie um Kämpfer aus Syrien und Libyen, sagte ein europäischer Regierungsbeamter am Dienstag vor Journalisten in Washington. Die Söldner verfügten nicht über schwere Fahrzeuge oder Waffen, vielmehr würden sie in erster Linie als „Masse gegen den Widerstand der Ukrainer“ eingesetzt.

In Deutschland geht die Debatte um eine Lieferung schwerer Waffen auch nach der jüngsten Erklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) weiter. Dem Grünen-Politiker Anton Hofreiter und der FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann gehen Scholz' Äußerungen vom Dienstagabend nicht weit genug. Auch der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk zeigte sich unzufrieden.

Scholz hat der Ukraine zugesagt, direkte Rüstungslieferungen der deutschen Industrie zu finanzieren. „Wir haben die deutsche Rüstungsindustrie gebeten uns zu sagen, welches Material sie in nächster Zeit liefern kann“, sagte er am Dienstag. „Die Ukraine hat sich nun von dieser Liste eine Auswahl zu eigen gemacht, und wir stellen ihr das für den Kauf notwendige Geld zur Verfügung.“ Darunter seien wie bisher Panzerabwehrwaffen, Luftabwehrgeräte, Munition „und auch das, was man in einem Artilleriegefecht einsetzen kann“.

Melnyk kritisierte die Ankündigung des Kanzlers als unzureichend. Sie seien in der ukrainischen Hauptstadt Kiew „mit großer Enttäuschung und Bitterkeit“ zur Kenntnis genommen worden, sagte Melnyk der Deutschen Presse-Agentur. Im ZDF-„heute journal“ monierte er zudem: „Die Waffen, die wir brauchen, die sind nicht auf dieser Liste.“

Hofreiter sagte dem Nachrichtenportal t-online: „Die von Olaf Scholz angekündigte Unterstützung unserer Partnerländer bei den Waffenlieferungen in die Ukraine ist ein weiterer Schritt in die richtige Richtung, aber er reicht nicht aus“. Strack-Zimmermann begrüßte auf Twitter, dass Scholz den Vorschlag aufgreife, für die Ukraine sofort bedienbare Waffen über osteuropäische Partner zu liefern, die Deutschland dann kompensiere. „Um Freiheit und Menschenrechte muss man aber kämpfen, die bekommt man nicht geschenkt. Dafür kam heute noch zu wenig Konkretes.“

Der Friedensbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Friedrich Kramer, unterstützt hingegen Scholz‘ Position. „Es beruhigt mich ein Stück, dass der Bundeskanzler da eher zögerlich ist“, sagt er in der aktuellen Ausgabe des Podcasts „Himmelklar“. Der mitteldeutsche Landesbischof verwies zur Begründung auf den Überfall der deutschen Wehrmacht 1941 auf die Sowjetunion und darauf, dass die Ukraine wegen der Lieferungen etwa aus Großbritannien und den USA nicht auf deutsche Waffen angewiesen sei.

Kanada will schwere Artilleriewaffen zur Verteidigung der Ukraine gegen den Angriff Russlands schicken. Das sagte Premierminister Justin Trudeau am Dienstag in New Brunswick. Details zu den Waffen und ihren Kosten sollen in den kommenden Tagen vorgestellt werden.

Das US-Verteidigungsministerium teilte seine Einschätzung mit, dass die ukrainische Luftwaffe aktuell besser da stehe als vor zwei Wochen. Verbündete Staaten, die mit den gleichen Flugzeugtypen Erfahrung hätten, hätten den Ukrainern dabei geholfen, mehr Flugzeuge einsatzbereit zu machen, erklärte der Sprecher. „In diesem Moment haben die Ukrainer mehr Kampfflugzeuge zur Verfügung als noch vor zwei Wochen.“ Medienberichten zufolge bereiten die USA ein weiteres militärisches Hilfspaket für die Ukraine im Volumen von 800 Millionen Dollar (741 Millionen Euro) vor.

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) geht nach aktuellen Berechnungen davon aus, dass mehr als fünf Millionen Menschen aus der Ukraine vor dem russischen Angriffskrieg ins Ausland geflohen sind. Hinzu kämen etwa 7,1 Millionen Menschen, die innerhalb der Ukraine ihr Zuhause verlassen hätten, sagte die stellvertretende UN-Hochkommissarin des UNHCR, Kelly Clements.

Nach mehr als einem Monat Unterbrechung ist die direkte Kommunikation zwischen dem ehemaligen Kernkraftwerk Tschernobyl und der zuständigen ukrainischen Aufsichtsbehörde wiederhergestellt worden. Das teilte der Direktor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi, am Dienstagabend unter Berufung auf Informationen der ukrainischen Atomaufsichtsbehörde mit. Grossi plant noch im April eine Mission von IAEA-Experten zum Standort Tschernobyl zu leiten.

(peng/dpa/AFP/Reuters)
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