Umbruch in der Ukraine Freiheit für Julia Timoschenko — Viktor Janukowitsch setzt sich ab

Kiew · Die ukrainische Oppositionsführerin Julia Timoschenko soll sofort freigelassen werden. Unklar war lange, ob sie sich bereits auf freiem Fuß befindet. Die Demonstranten auf dem Maidan behaupten, die "volle Macht" in Kiew übernommen zu haben. Das Innenministerium kündigte an, alle Sicherheitskräfte würden ab sofort die Regierungsgegner unterstützen.

Die Chronologie im Fall Julia Timoschenko
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Foto: dpa, Aleksandr Prokopenko

Das ukrainische Parlament hatte am Morgen für die sofortige Freilassung der inhaftierten Oppositionsführerin Julia Timoschenko gestimmt. "Unseren Informationen zufolge ist Julia Timoschenko in großer Gefahr", sagte der neue Parlamentschef Alexander Turtschinow am Samstag bei der live im Fernsehen übertragenen Sitzung. Am frühen Nachmittag meldeten mehrere TV-Sender, Timoschenko sei auf freiem Fuß. Anschließend bestätigte dies scheinbar auch ihre Sprecherin Natalia Lyssowa . Dabei handelte es sich aber offenbar um einen Übersetzungsfehler. Lyssowa dementierte anschließend die Berichte.

Hochburg von Janukowitsch in Charkow

Die frühere Regierungschefin war wegen der Folgen eines Rückenleidens in einem Krankenhaus in Charkow behandelt worden. Die ostukrainische Millionenstadt gilt als Hochburg von Präsident Viktor Janukowitsch. Mitglieder von Timoschenkos Partei stürmten die Klinik und versprachen, ihre Anführerin zu schützen.

 Alexander Turschinow ist der neue Parlamentspräsident in Kiew. Er verkündete am Morgen des 22. Februar die sofortige Freilassung von Julia Timoschenko. Dabei trug er eine schwarze Lederjacke.

Alexander Turschinow ist der neue Parlamentspräsident in Kiew. Er verkündete am Morgen des 22. Februar die sofortige Freilassung von Julia Timoschenko. Dabei trug er eine schwarze Lederjacke.

Foto: dpa, yk bjw

Timoschenko ist seit der Orangenen Revolution 2004 die Erzrivalin des Präsidenten Viktor Janukowitsch. Ihre Verhaftung 2011 unter dem Vorwurf des Amtsmissbrauchs wurde von vielen Beobachtern als ein Fall politischer Rache betrachtet.

Polizisten auf der Seite der Regime-Gegner

Das Innenministerium hatte zuvor angekündigt, die die Sicherheitskräfte stünden ab sofort auf der Seite der Opposition. Die Polizei diene ausschließlich dem ukrainischen Volk und unterstütze vollständig das Streben der Bürger nach schnellstmöglichen Änderungen, hieß es in der Mitteilung.

"Die Miliz ruft die Bürger auf, mit gemeinsamen Anstrengungen die Rechtsordnung im Staat zu wahren, keine Vernichtung der Infrastruktur der Rechtsschutzorgane zuzulassen, die jahrelang aufgebaut wurde und immer vom Volk benötigt wird für den Schutz vor rechtswidrigen Handlungen", teilte das Ministerium mit. Der zuständige Minister war zuvor aus dem Land geflohen.

Präsident Viktor Janukowitsch hält sich nach Angaben einer engen Mitarbeiterin in der Millionenstadt Charkow auf. "Der Präsident wird heute in Charkow im Fernsehen auftreten", sagte seine Beraterin Anna German am Samstag der Agentur Interfax. Dem russischen Radiosender Echo Moskwy sagte die Parlamentarierin, Janukowitsch wolle auch noch andere Regionen der Ex-Sowjetrepublik besuchen und dann nach Kiew zurückkehren. "Jede Spekulation zu diesem Thema stammt von Leuten, die das Land zerreißen wollen."

Neuer Parlamentspräsident schon gewählt

Unterdessen verliert die ukrainische Führung immer mehr die Kontrolle über das Land. Gegner Janukowitschs ergriffen nach eigenen Angaben die Macht in Kiew. Sogenannte Selbstverteidigungskräfte schützten das Parlament, den Regierungssitz und die Präsidialkanzlei im Zentrum der Hauptstadt vor Übergriffen. Die Sicherheitsorgane des Innenministeriums in Kiew liefen zur Opposition über.

Die Oberste Rada in Kiew wählte mit großer Mehrheit einen Vertrauten der inhaftierten Oppositionsführerin Julia Timoschenko zum neuen Chef des Parlaments. Der Oppositionspolitiker Vitali Klitschko will den Präsidenten durch die Oberste Rada absetzen lassen. "Das Parlament ist heute das einzige legitime Organ, das Entscheidungen trifft", sagte Klitschko am Samstag in Kiew. Das Parlament wollte zudem über eine Übergangsregierung entscheiden. Alle Fernsehender übertrugen die Sitzung live.

Rund um die Millionenstadt Charkow nahe der Grenze zu Russland hat Janukowitsch traditionell seine Machtbasis. An einem Kongress von Delegierten aus dem prorussischen Osten und Süden der Ex-Sowjetrepublik - der sogenannten Ukrainischen Front - werde Janukowitsch aber nicht teilnehmen, sagte seine Beraterin Anna German. Zuvor hatte es Berichte gegeben, der Präsident habe das Land verlassen. In vielen westlichen Regionen hatten Regierungsgegner schon zuvor die Kontrolle über Verwaltungsgebäude übernommen.

77 Tote in Kiew

Tausende Menschen hatten in der Nacht auf dem Unabhängigkeitsplatz (Maidan) in Kiew ausgeharrt. Sie kritisieren, ein vorläufiges Abkommen Janukowitschs mit der parlamentarischen Opposition sei nicht ausreichend. Darin hatten die Konfliktparteien unter EU-Vermittlung vorgezogene Präsidentenwahlen, eine Übergangsregierung und eine neue Verfassung vereinbart.

In den vergangenen Tagen waren bei Zusammenstößen von Regierungsgegnern mit der Polizei in Kiew mindestens 77 Menschen getötet worden. Den Opfern wird an diesem Wochenende mit zwei landesweiten Tagen der Trauer gedacht.

(AFP/ap/ Reu/dpa)
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