Flucht vor Russen angeordnet Gehen oder Bleiben - für Ostukrainer an der Front tickt die Uhr

Kramatorsk · Die die noch verbliebenen Einwohner in der Region Donezk sollen sich möglichst schnell vor den Russen in Sicherheit bringen - so hat es die ukrainische Regierung angeordnet. Dennoch fällt vielen die Flucht schwer.

 Krater von einem russischen Raketeneinschlag vor dem Kultur- und Technologiepalast in Kramatorsk.

Krater von einem russischen Raketeneinschlag vor dem Kultur- und Technologiepalast in Kramatorsk.

Foto: AP/David Goldman

Maryna Hawrysch hält mühsam die Tränen zurück, als sie einer Gruppe von Freiwilligen hilft, ihre Eltern in einen Kleinbus zu setzen - zur Evakuierung aus Kramatorsk nahe der Front im Ukraine-Krieg. Ihr 84-jähriger Vater, Viktor Mariucha, wird auf einer Trage aus dem Haus gebracht, ihre gehbehinderte Mutter Lidia, 79 Jahre alt, auf beiden Seiten von Helfern gestützt.

Die Eheleute haben über Jahrzehnte hinweg hier gelebt, und jetzt verlassen sie ihr Zuhause, um sich auf die Reise in ein Pflegeheim in der westlichen Ukraine zu machen. Ihre Tochter bemüht sich um tröstende Worte, aber als sich die Schiebetüren des Fahrzeuges schließen, brechen die Dämme. „Ich weiß, dass das hier das letzte Mal ist, dass ich sie jemals sehe“, schluchzt Maryna, die sich entschlossen hat, mit ihrem Mann in Kramatorsk zu bleiben, um dort weiter zu arbeiten. „Du siehst ihr Alter, ich kann sie nicht angemessen pflegen.“

Die Abreise der Eltern mit Unterstützung einer ukrainischen Hilfsgruppe erfolgt wenige Tage nach einer Anordnung von Präsident Wolodymyr Selenskyj an alle noch verbliebenen Einwohner in der umkämpften Region Donezk, sich so schnell wie möglich vor den näher rückenden Russen in Sicherheit zu bringen. Je mehr Leute jetzt das Gebiet verließen, desto weniger Gelegenheit zum Töten gebe es für die Angreifer, sagte Selenskyj.

Und während es im August in der Ostukraine noch warm ist, laufen bei den Behörden bereits die Vorbereitungen auf die kalten Herbst- und Wintermonate. Dann, so befürchten sie, könnten viele der etwa 350.000 Einwohner, die sich dann noch in der Region aufhalten, keinen Zugang zu Heizung, Elektrizität und vielleicht sogar sauberem Wasser haben.

Nach Angaben der stellvertretenden ukrainischen Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk traf am vergangenen Dienstag ein Zug mit Flüchtlingen aus Donezk in der Zentralukraine ein, der Beginn einer Aktion, die von den Behörden als Zwangsevakuierung bezeichnet wird - mit dem Ziel, bis zum Herbst 200.000 bis 220.000 Menschen aus der Provinz zu holen.

In den Ausläufern von Kramatorsk - häufig unter russischem Beschuss - haben Freiwillige einen Sammelpunkt für Flüchtlinge eingerichtet, die dann von dort aus zum 85 Kilometer entfernten Bahnhof in Pokrowsk gebracht werden, der nächstgelegenen Bahnstation, die in Betrieb ist.

Die 87-jährige Valentyna Abramanowska trägt nur eine Schwarz-Weiß-Fotografie bei sich, als sie mühsam den Kleinbus nach Pokrowsk besteigt. Das Bild, das ihre Mutter und Schwester zeigt, wurde vor fast 50 Jahren am Asowschen Meer aufgenommen - ein kostbares Stück Vergangenheit, das sie mitnimmt. „Gott helfe mir, Gott helfe mir“, sagt sie und bekreuzigt sich mit zitternden Händen. „Ich glaube, ich werde verrückt.“

Abramanowska erzählt von den Bombardierungen ihres Dorfes, „ein Albtraum“, wie sie sagt. Ihre Tochter habe sie dazu überredet, die Heimatregion zu verlassen. Die Ukrainerin hat nach eigenen Angaben noch Kindheitserinnerungen, an die deutschen Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg die Ukraine besetzt hielten. Aber für sie sind die russischen Bombardierungen in Donezk eine schlimmere Erfahrung. „Sie sind Bestien, Schakale. Gott vergebe mir, was ich sage“, erklärt Abramanowska. „Wie ist es möglich? Sie töten Kinder.“

Während sich manche wie sie dafür entschieden haben, der Anordnung der Regierung zu folgen, sind andere zum Bleiben entschlossen. Dazu zählt Nina Grandowa. Ihre Wohnung im dritten Stock eines Hauses in Kramatorsk kam im Juli unter russischen Beschuss und wurde beschädigt, und ihr behinderter Ehemann Juri lebt seit Beginn der Invasion am 24. Februar im düsteren Keller des Gebäudes. Trotz aller Härten hat Grandowa bereits damit begonnen, draußen Holz einzusammeln - für Feuer zum Kochen während der Wintermonate.

 Nina Grandowa (r.) besucht ihren behinderten Mann Juri im Keller ihres beschädigten Gebäudes. Juri schafft es bei Luftalarm nicht, vier Stockwerke hinabzusteigen.

Nina Grandowa (r.) besucht ihren behinderten Mann Juri im Keller ihres beschädigten Gebäudes. Juri schafft es bei Luftalarm nicht, vier Stockwerke hinabzusteigen.

Foto: AP/David Goldman

Die Ostukrainerin ist nach eigenen Angaben bereit, ein von den Behörden verlangtes Dokument zu unterzeichnen, mit dem Inhalt, dass jene, die bleiben, für ihr eigenes Leben verantwortlich sind. „Ich habe nichts, wohin ich gehen könnte. Ich muss für meinen Mann sorgen“, sagt Grandowa. „Was kommt, kommt.“

Derweil steigen im Bahnhof Pokrowsk Hunderte Flüchtlinge in einen Zug, um sich auf eine mehrere Stunden lange Reise nach Dnipro zu machen. Auf dem Bahnsteig wartet eine Frau mit ihrer kleinen Tochter, bis sie an der Reihe ist. Die Bombardierungen und die Furcht vor einem Winter ohne Heizung hätten sie zum Fliehen bewogen, schildert die junge Mutter aus der östlichen Stadt Bachmut. „Wir hatten schon Probleme mit Strom und kein Gas, und so glaube ich, dass Familien mit Kindern die ersten sind, die weggehen.“

Nur Augenblicke, bevor sich der Zug in Richtung Westen in Bewegung setzt, durchdringt das Heulen einer Luftschutzsirene den Bahnhof.

(peng/dpa)
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