Hagia Sophia Der Herr im Haus

Istanbul · Die Hagia Sophia in Istanbul ist jetzt offiziell Moschee. Der türkische Präsident Erdogan rezitiert beim ersten Freitagsgebet den Koran.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Freitag in der Hagia Sophia.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Freitag in der Hagia Sophia.

Foto: dpa/Mustafa Kamaci/dpa

In Scharen pilgern die Menschen am Morgen vom Meeresufer durch die gesperrten Straßen der Altstadt zur Anhöhe der Halbinsel, auf der die Hagia Sophia thront. Familien, Ehepaare, Freundesgruppen von nah und fern: Seit dem frühen Morgen strömen sie aus den Fähren und Bahnen und streben zu Fuß bergan, um dabei zu sein beim ersten Freitagsgebet in dem Gebäude, das bis 1934 Moschee war und jetzt wieder Moschee ist.

Die meisten müssen ihre Gebetsteppiche in den umliegenden Gassen ausrollen, weil der Platz vor der Hagia Sophia schon seit dem Morgen überfüllt ist – wer ganz nah dran sein wollte, kampierte in der Nacht hier. Die Sonne brennt, während die Menschen dicht an dicht stundenlang auf dem Pflaster kauern und auf den Gebetsruf warten, doch die Atmosphäre ist friedlich und feierlich. Helfer verteilen Kekse, Wasser und Saft. Feiertagsstimmung in Istanbul.

Mehmet Fatih und seine Familie sind aus dem zentralanatolischen Konya gekommen, um dabei zu sein: Sieben Stunden lang saßen sie im Auto mit drei Kleinkindern, verbrachten die Nacht im Hotel und sitzen nun festlich gekleidet auf dem Kopfsteinpflaster einer Gasse. Das Gebet in der Ayasofya, wie die Hagia Sophia auf Türkisch heißt, sei für einen türkischen Muslim die Erfüllung eines Lebenstraums, sagt der 32-jährige Architekt.

Warum? Fatih weist auf seine Frau, eine elegant gekleidete Dame mit Sonnenbrille und schwarz-lila Kopftuch. „Sehen Sie mal, meine Frau hat wegen ihres Kopftuchs nicht studieren dürfen“, sagt er. Zeit seines Lebens hätten er und seine Angehörigen im frommen Konya sich fremd fühlen müssen im eigenen Land: fremdbestimmt von Werten, die nicht ihre waren – wie der strikte Säkularismus, der die Hagia Sophia von der Moschee zum Museum machte und ihnen das Kopftuch verbieten wollte. Die Umwandlung der Hagia Sophia zur Moschee symbolisiere für ihn, dass die Türkei endlich bei sich sei, sagt Fatih – nach fast 100 Jahren Republik endlich Herr im eigenen Haus.

Gebetsteppiche bedecken inzwischen fast die ganze Straße. Auf einem schmalen, freigelassenen Streifen quetschen sich unablässig Menschen vorbei, die es noch näher an die Hagia Sophia heran zu schaffen hoffen oder die aufgegeben und den Rückzug angetreten haben. Manche Männer im Gedränge tragen Turbane auf dem Kopf oder einen Fez – beides Kopfbedeckungen, die Staatsgründer Atatürk zugunsten breitkrempiger Hüte verbieten ließ, mit denen man nicht im Gebet die Stirn zum Boden führen kann. Viele jüngere Männer und Frauen haben sich ein Stirnband umgebunden, das bei den fliegenden Händlern reißenden Absatz findet: „Die Ketten sind zerrissen, die Ayasofya ist geöffnet“, steht darauf.

Ganz nah an das 1500 Jahre alte Gebäude, das jetzt „Großmoschee Hagia Sophia“ heißt, kommen nur wenige heran. Im Laufe des Vormittags wächst die Menge auf mehrere Hunderttausend Menschen an, mehr als 20.000 Polizisten sperren alle Zugänge. Drohnenbilder des türkischen Fernsehens zeigen ein Meer von Menschen in den umgebenden Straßen. Der Ruf „Allahu akbar“ – „Gott ist groß“ – brandet immer wieder auf. In der Hagia Sophia beginnen in Weiß gekleidete Geistliche, feierlich Koransuren zu deklamieren. Großleinwände und Lautsprecher übertragen das Geschehen nach draußen.

Präsident Recep Tayyip Erdogan trifft etwa eine Stunde vor dem Gebet ein. Er hat sein halbes Kabinett, hohe Generäle und Politiker im Gefolge: Die religiöse Feier wird als Staatsakt zelebriert. Alle tragen Gesichtsmasken und knien vor der Gebetsnische auf dem neu verlegten, blaugrünen Teppich nieder. Hinter ihnen nehmen rund 500 Ehrengäste auf dem Teppich Platz. Im hinteren Teil der Hagia Sophia sind Teppiche für die Frauen ausgelegt.

Inzwischen ist Zeit für das Freitagsgebet. Vor der Gebetsnische zieht sich Erdogan eine weiße Gebetskappe an und greift zum Mikrofon – doch nicht, um eine Rede zu halten: Der 66-jährige Präsident intoniert die Fatiha-Sure, das erste Kapitel des Korans. Von Erdogan ist bekannt, dass er in seiner Freizeit gerne Koransuren rezitiert.

Die Menschen vor der Hagia Sophia sind aufgestanden und erheben die Hände zum Gebet. Ali Erbas, der Präsident des türkischen Religionsamtes und damit höchster islamischer Geistlicher des Landes, tritt mit einem Schwert in der Hand auf die Kanzel und erbittet in seiner Freitagspredigt Gottes Segen für die „heilige Nation“ der Türkei. Erdogan hört mit gesenktem Kopf zu, nur einmal schaut er während der mehrstündigen Zeremonie verstohlen auf seine Armbanduhr.

Ein Tag der Einheit der Türkei ist dieser Freitag trotz der Anwesenheit des Präsidenten und trotz des Massenandrangs nicht. „Ich bin auch ein Bürger der Türkei“, sagt zum Beispiel Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk. Als Atatürk die Hagia Sophia zum Museum erklärt habe, sei das ein Zeichen gewesen, dass die Türkei säkulär und Teil der europäischen Kultur sein wollte, sagt Pamuk in einem Interview mit der Deutschen Welle. Mit der Rückumwandlung in einer Moschee sage die Türkei: „Wir respektieren den Säkularismus von Kemal Atatürk nicht mehr.“ Diese Botschaft will Pamuk mit „Millionen anderen, die säkulär eingestellt sind“, nicht mittragen. „Leider werden unsere Stimmen nicht gehört.“

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