Alle Augen auf Erdogans Regierungspartei gerichtet Türkei vor Schicksalswahl

Istanbul (RPO). Wenige Tage vor der Parlamentswahl in der Türkei am Sonntag geht es nicht um die Frage, wer als Sieger ausgerufen wird: Alle Umfragen sagen einen erneuten Triumph für die religiös-konservative AK-Partei von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan voraus. Die Aufmerksamkeit von Politikern, Experten und Wählern richtet sich auf das Ausmaß des erwarteten Erdogan-Sieges.

 Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und seine Frau Emine bei einer Wahlkampfveranstaltung in Istanbul.

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und seine Frau Emine bei einer Wahlkampfveranstaltung in Istanbul.

Foto: AFP, AFP

Denn davon hängt mehr ab als Mandate: Es geht um eine neue Verfassung für das einzige muslimische EU-Bewerberland.

Die Demoskopen gehen davon aus, dass Erdogans seit 2002 regierende AKP am Sonntag zwischen 45 und 50 Prozent der Stimmen erhalten wird; bei der letzten Wahl 2007 kam sie auf 47 Prozent. Zweitstärkste Partei ist die säkularistische CHP, die sich den Umfragen zufolge auf ein Ergebnis zwischen 25 und 30 Prozent zubewegt.

Die rechtsgerichtete MHP kann mit zwölf bis 15 Prozent rechnen, und die Kurdenpartei BDP, die zwecks Umgehung der Zehnprozent-Hürde nominell unabhängige Kandidaten ins Rennen schickt, dürfte bis zu 30 Abgeordnete im neuen Parlament stellen. Insgesamt zählt das Parlament in Ankara 550 Abgeordnete. Rund 50 Millionen Türken sind wahlberechtigt.

Für deutsche Maßstäbe unerhört

Trotz der klaren Kräfteverteilung in den Umfragen ist der Wahlkampf von einer Schärfe geprägt, die für deutsche Maßstäbe unerhört ist. CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu empfahl Erdogan, er solle sich auf Geisteskrankheit untersuchen lassen, und kündigte an, er werde dem Ministerpräsidenten "die Zähne ziehen". Erdogan nannte Kilicdaroglu schmutzig, unmoralisch und einen Halunken. Die rechte MHP wurde derweil von einem Skandal um Sex-Videos erschüttert, der zum Rücktritt von zehn ihrer Führungsmitglieder führte.

Das wüste verbale Hauen und Stechen auf den Marktplätzen zwischen Bosporus und dem Berg Ararat ist aber selbst für türkische Verhältnisse ungewöhnlich und weist daraufhin, dass am Wahltag viel auf dem Spiel steht.

Die Türkei will sich in der kommenden Legislaturperiode eine neue Verfassung geben, die das Land vom Korsett des bisherigen Grundgesetzes befreit, das ihm nach dem Militärputsch von 1980 von den Generälen verordnet worden war. Freier und demokratischer soll die neue Verfassung werden, soweit sind sich alle einig. Dennoch scheiterten bisher alle Versuche, einen politischen Konsens für den neuen Text zu finden.

Erster Präsident der neuen Verfassung?

Der Parteienstreit macht die Frage nach der Dimension des erwarteten Erdogan-Sieges am Wahlsonntag so wichtig: Sollte die AKP es schaffen, eine Zweidrittelmehrheit von mindestens 367 Sitzen zu ergattern, könnte sie die Verfassung quasi im Alleingang schreiben und beschließen. Sollte die AKP dieses Ziel verfehlen, aber bei mehr als 330 Mandaten landen, könnte sie die Verfassung zwar nicht sofort vom Parlament verabschieden lassen, den Text aber einer Volksabstimmung vorlegen.

Erdogan und andere AKP-Politiker betonen, sie strebten eine parteiübergreifende Einigung an, doch Kritiker hegen den Verdacht, dass der Ministerpräsident andere Pläne hat. Der 57-jährige hat sich mehrmals für die Einführung eines Präsidialsystems nach französischem oder amerikanischen Vorbild ausgesprochen und gleichzeitig verkündet, die neue Legislaturperiode werde seine letzte als Parlamentsabgeordneter sein. Das lässt seine Gegner vermuten, Erdogan wolle sich zum ersten Präsidenten der neuen Verfassung wählen lassen.

Über Europa redet dagegen niemand im Wahlkampf. Nach diversen Zurückweisungen durch die EU in den vergangenen Jahren ist die angestrebte Mitgliedschaft für die Türken kein Aufreger mehr, wie Wirtschaftsminister und Vize-Premier Ali Babacan kürzlich in Istanbul erläuterte.

Als aufsteigende Regionalmacht am Rande des Arabischen Frühlings hat die Türkei gerade andere Prioritäten. Die EU sei derzeit ohnehin nicht in der Lage, über die Aufnahme eines großen Landes nachzudenken, sagte Babacan und fügte hinzu: "Wir schauen uns anderswo um."

(AFP/csr)
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