Gerichtshof für Menschenrechte Türkei muss pro-kurdischen Politiker aus Haft entlassen

Istanbul/Paris · Die Türkei muss Erdogan-Kritiker Selahattin Demirtas entlassen - so zumindest hat das Menschenrechtsgericht in Straßburg entschieden. Den türkischen Präsidenten scheint das jedoch wenig zu interessieren.

Die Türkei muss den seit rund zwei Jahren in der Türkei inhaftierten Oppositionspolitiker und Erdogan-Kritiker Selahattin Demirtas aus der Untersuchungshaft entlassen. Das urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am Dienstag in Straßburg. Das Gericht befand, dass für die Verhaftung des ehemaligen Vorsitzenden der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP zwar begründeter Verdacht bestand, allerdings sei die Dauer der Untersuchungshaft nicht gerechtfertigt.

Demirtas müsse wegen der aktuellen Vorwürfe so schnell wie möglich entlassen werden - es sei denn, die Türkei trage neue Gründe und Beweise für die Inhaftierung vor, so die Straßburger Richter. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan wies das Urteil umgehend zurück und bezeichnete es als nicht bindend.

HDP-Politiker reagierten auf einer Fraktionssitzung im Parlament in Ankara mit spontanem Jubel und Klatschen auf die Entscheidung. Die Parteivorsitzende Pervin Buldan und Demirtas-Anwalt Mahsuni Karaman forderten die umgehende Umsetzung des Urteils. Karaman schrieb auf Twitter, der Antrag auf Freilassung seines Mandanten sei beim zuständigen Gericht in Ankara eingereicht worden. Auch deutsche Politiker begrüßten die Straßburger Entscheidung, die einen Tag vor der Reise einer EU-Delegation nach Ankara kommt.

Die Türkei muss sich als Mitglied des Europarats grundsätzlich an das Urteil halten. Es ist aber noch nicht rechtskräftig. Beide Seiten können innerhalb von drei Monaten die Verweisung an die Große Kammer des EGMR beantragen.

Der charismatische Demirtas ist ein scharfer Kritiker von Erdogan und hat immer wieder vor einer Ein-Mann-Herrschaft in der Türkei gewarnt. Er war im November 2016 unter Terrorvorwürfen verhaftet worden und ist im westtürkischen Edirne inhaftiert. Bis Februar war er HDP-Vorsitzender. Bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Juni ließ sich Demirtas nicht als Abgeordneter wiederwählen, trat aber aus dem Gefängnis heraus als Präsidentschaftskandidat gegen Erdogan an. Trotz des erschwerten Wahlkampfs erreichte er mit 8,4 Prozent der Stimmen den dritten Platz.

Demirtas fühlt sich politisch verfolgt. Erdogan dagegen bezeichnet Demirtas als „Terroristen“. Er sieht die HDP - die eine legale Partei ist - als verlängerten Arm der als terroristisch eingestuften Organisation PKK.

Die Richter in Straßburg sahen die Arbeit von Demirtas als Abgeordneter behindert. Sie urteilten, die Tatsache, dass der Politiker seiner Arbeit im Parlament nicht nachkommen konnte, sei ein unrechtmäßiger Eingriff in die Meinungsfreiheit und in das Recht, als gewählter Abgeordneter im Parlament zu sitzen.

Seine Inhaftierung habe das Ziel gehabt, Pluralismus zu ersticken und die Freiheit der politischen Debatte einzugrenzen, befanden die Richter. Das habe insbesondere während der Präsidentenwahlen im Juni und für das umstrittene Verfassungsreferendum im April 2017 gegolten. Damals stimmten die Türken knapp für den Übergang von einem parlamentarischen auf ein Präsidialsystem, wodurch Erdogan weitreichende Vollmachten erhielt.

Die Richter urteilten zudem, die Regierung in Ankara müsse eine Entschädigung von 10 000 Euro an Demirtas zahlen und ihm Kosten in Höhe von 15 000 Euro erstatten.

Der europapolitische Sprecher der Linksfraktion Andrej Hunko nannte die Entscheidung „wichtig und begrüßenswert“. Die Inhaftierung des Politikers habe auch die Wahlen im Juni verzerrt. „Ich erwarte von der Türkei nun die Freilassung von Selahattin Demirtas in den nächsten Tagen“, sagte er.

Auch die Grünen forderten Konsequenzen. Die frühere Parteichefin Claudia Roth sagte der Deutschen Presse-Agentur, das Urteil zeige, dass die türkische Justiz ihre Unabhängigkeit an die AKP-Regierung abgegeben habe. „Das ist ein weiterer Grund, eben nicht auf eine Normalisierung mit der Türkei zu setzen, sondern auch das deutsche Verhältnis zu Ankara grundlegend zu überdenken“, forderte sie.

Alle politischen Überlegungen und finanziellen Hilfen müssten „konsequent auf die vielen Demokratinnen und Demokraten“ ausgerichtet werden, die in der Türkei weiterhin für den Rechtsstaat einträten. Roth und Ex-Parteichef Cem Özdemir forderten, Demirtas und alle anderen politischen Gefangenen freizulassen.

Demirtas und seine Partei haben immer wieder kritisiert, dass Erdogan ihn in Wahrheit habe wegsperren lassen, um einen Kritiker loszuwerden. Denn Demirtas hatte es geschafft, auch Wähler außerhalb der kurdischen Stammklientel für die HDP zu begeistern. Dabei setzte er in seiner Zeit als Vorsitzender unter anderem auf die Themen Ökologie, Gleichberechtigung und Menschenrechte. Im Jahr 2015 schaffte die HDP unter der Führung des 45-Jährigen und der damaligen Ko-Chefin Figen Yüksekdag erstmals den Einzug ins Parlament - Erdogans AKP kostete das damals die absolute Mehrheit.

(lukra/dpa)
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