Angriffe im Nordirak Kampf gegen PKK und IS stürzt Türkei in schwere Krise
Istanbul · Während die türkischen Streitkräfte an den Grenzen zum Irak und zu Syrien einen Zweifrontenkrieg führen, dreht sich die Spirale der Gewalt auch innerhalb der Türkei immer schneller. Der Kurdenkonflikt bricht wieder auf. Die PKK erklärte den seit 2013 geltenden Waffenstillstand für beendet.
In der Türkei herrsche offener Kriegszustand, schrieb der Journalist Yavuz Baydar bei Twitter. Der regierungskritische islamische Theologe Ihsan Eliacik kommentierte, die Situation erinnere ihn an den letzten Putsch: "Luftangriffe in den Bergen, Polizeiaktionen in den Städten, Razzien und Festnahmen - der Knüppel ist der gleiche, nur die Hand, die ihn schwingt, ist eine andere." Regierungsanhänger forderten dagegen in sozialen Netzwerken die offizielle Verhängung des Kriegsrechts in Südostanatolien.

Das sind die Verbündeten im Kampf gegen IS
Laut Medienberichten griffen türkische Kampfjets seit Freitag in 159 Einsätzen rund 400 Ziele des IS und der PKK an. Damit reagierte Ankara auf den mutmaßlich vom IS verübten Anschlag von Suruç, bei dem mehr als 30 Menschen starben, sowie auf Racheakte der PKK, die dem türkischen Staat eine Mitverantwortung für das Massaker zuweist und deshalb mindestens vier Polizisten und Soldaten getötet hat. Die türkische Polizei nahm am Wochenende rund 600 Menschen als mutmaßliche Extremisten fest, darunter viele Kurden.
Die türkischen Behörden sperrten zudem den Zugang zu einigen linksgerichteten und kurdischen Internetmedien. In Ankara ging die Polizei mit Tränengas gegen rund 1000 Demonstranten vor. Die regierungsnahe Zeitung "Takvim" meldete, die Staatsspitze sei entschlossen, den Kampf gegen Gruppen wie IS und PKK "bis zum Ende" fortzusetzen.
Kritiker vermuten, dass es Präsident Recep Tayyip Erdogan und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu nicht nur um die Verteidigung des Staates geht. Präsident und Premier setzen demnach alles daran, ihrer Regierungspartei AKP einen innenpolitischen Vorteil zu verschaffen. Dreh- und Angelpunkt dieser Haltung ist die Aussicht auf vorgezogene Neuwahlen im November.

Isis/IS - Islamischer Staat im Irak und Syrien
Die Opposition sagt Erdogan nach, er wolle einen neuen Urnengang erzwingen und die AKP nach der Wahlschlappe vom Juni zum Erfolg führen. Der Chef der Kurdenpartei HDP, Selahattin Demirtas, warf der Regierung vor, alle Aktionen der letzten Tage dienten allein diesem Zweck. Instabilität, so lautet demnach die Überlegung der AKP, erschreckt die Wähler - und die könnten deshalb bei Neuwahlen massenweise zur AKP zurückkehren. Umgekehrt könnte neue Gewalt im Kurdengebiet der HDP schaden, die im Juni mit 13 Prozent der Stimmen überraschend stark abschnitt. Zudem ziele die AKP-Taktik darauf ab, Wähler von der rechtsnationalen Partei MHP für die Regierungspartei zurückzugewinnen, kommentierte der Meinungsforscher Özer Sancar bei Twitter.
Diese Taktik ist nicht nur wegen der drohenden Eskalation der Gewalt sehr gefährlich, sondern für Erdogan auch politisch riskant: Einige Umfragen sagen der AKP bei einer Neuwahl eine neue Niederlage statt einem strahlenden Sieg voraus. Erdogan und Davutoglu sehen das offenbar anders. Zwar ist es unwahrscheinlich, dass Präsident und Premier die jüngsten Spannungen im Dienste ihrer Wahlstrategie absichtlich auslösten. Doch beide Politiker fachen die Situation weiter an, statt zu deeskalieren. Die ersten Luftangriffe auf PKK-Stellungen im Nordirak seit Jahren sind das beste Beispiel dafür.
Die Haltung des kurdischen Lagers ist noch unklar. Einerseits rufen Kurdenpolitiker wie Demirtas zu Ruhe und Besonnenheit auf, um die vermutete Taktik der AKP zu durchkreuzen. Gleichzeitig bekennt sich aber die PKK zu den Morden an Vertretern des türkischen Staates.