Serie "Leben in der Mittelschicht" (5) Türkei: Ein Leben lang für die Kinder schuften

Ankara (RP). Als Celal Kecili im vergangenen Jahr zum Arzt ging, weil er sich nicht wohl fühlte, hatte der Mediziner nur einen Rat für den 42-jährigen: Urlaub. "Er schrieb mir nicht einmal ein Medikament auf", sagt Kecili, ein Baustoffhändler in der türkischen Metropole Istanbul.

Gezwungenermaßen nahm sich Kecili damals zehn Tage frei - das erste Mal seit Jahren. Denn Urlaub ist eigentlich nicht drin für ihn. Von morgens acht bis abends acht hält Kecili in seinem Laden zwischen Farbeimern, Werkzeug, Isoliermaterial, Schrauben und Scharnieren die Stellung, sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr. Am Monatsende bleibt kaum Geld übrig. Und wozu das alles? "Für die Kinder", sagt Kecili. Der Satz: "Die sollen es einmal besser haben", ist für den türkischen Kleinunternehmer keine Phrase, sondern ein Traum.

Ein türkischer Normalbürger hat pro Jahr etwa 6700 Euro zur Verfügung, das ist knapp ein Drittel des EU-Durchschnitts. Kecilis Einkommen liegt noch darunter. Einen breiten Mittelstand wie in Deutschland oder anderen europäischen Staaten gibt es in der Türkei nicht: Traditionell klafft zwischen den oberen Zehntausend und der verhältnismäßig armen Bevölkerungsmehrheit ein großer Graben. Erst durch den Wirtschaftsaufschwung in den vergangenen Jahren ist so etwas wie eine Mittelschicht entstanden, die finanziell zwar keine großen Sprünge machen kann, die sich aber trotzdem einen höheren Lebensstandard erarbeitet hat als die Vorgängergeneration - und die große Hoffnungen in ihre Kinder setzt.

Celal Kecili ist ein typischer Vertreter dieser Schicht. Geboren in einem Dorf in der zentralanatolischen Provinz Sivas, ging er als 15-Jähriger in die Metropole Istanbul. "Um etwas zu lernen", sagt er. Nach zwei Jahren Berufsfachschule für Techniker konnte er sich die Ausbildung nicht mehr leisten. Er jobbte als Lastwagenfahrer, legte Geld zurück und kaufte 1992 sein 80 Quadratmeter großes Geschäft in einem Stadtviertel auf einem Hügel über dem europäischen Ufer des Bosporus. Seine Frau holte er aus Sivas nach, und auch seinen Bruder, der Kecilis Partner im Laden wurde. Auf einem freien Grundstück baute er sein Haus selbst.

Heute fährt Kecili alle fünf Jahre in sein Heimatdorf, um seine Eltern zu besuchen. Zu mehr reicht das Geld nicht. Sein Geld steckt er in die Ausbildung seiner 13-jährigen Tochter Didem und seines zwei Jahre älteren Sohnes Ismail. Beide besuchen eine Schule, die Celal wegen ihres guten Rufes ausgewählt hat. Die liegt zwar in einem anderen Stadtteil Istanbuls, doch das Busgeld zahlt er gern: "Wir schuften dafür, dass sie eine bessere Ausbildung haben als wir."

Mehr als zwei Kinder wollten Celal und seine Frau Ziynet nicht - weil das Geld dann nicht für eine gute Schule gereicht hätte. Celals Sohn möchte Geschichte studieren, Kecili hat nichts dagegen. Aus einem Dorf binnen zwei Generation an die Universität: So sehen türkische Mittelschicht-Träume aus. Kecili geht es vergleichsweise gut. Er besitzt ein Auto, er hat ein Handy, ein Festnetztelefon, und in seinem Geschäft steht ein Computer.

Die Arbeit lässt Kecili jedoch kaum Zeit für eigene Träume. New York möchte er sehen, Frankreich, Deutschland. Auch schwärmt er von einem vereinten Europa, mit der Türkei als Mitglied, wie er betont: "Ich will mich eines Tages einmal mit einem Griechen hinsetzen und einen Kaffee trinken."

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort