Gewaltsames Vorgehen gegen Proteste Türkei droht Demonstranten mit der Armee

Istanbul/Ankara · Das Protestlager in Istanbul ist brutal geräumt worden, der Schock bei den Demonstranten sitzt tief. Die Lage ist aufgeheizt. Notfalls will die türkische Regierung auch die Armee einsetzen.

Nach mehr als zwei Wochen heftiger Proteste gegen die islamisch-konservative Regierung in der Türkei sind die politischen Gräben gefährlich tief geworden. Mit einer Wucht, die fast alle überrascht hat, fordert vor allem die junge großstädtische Bevölkerung persönliche Freiheiten ein. Sie wehrt sich gegen die zunehmende staatliche Kontrolle und konservativ-religiöse Sittenstrenge.

Immer schärfer wird der Ton der Regierung Erdogan. Nun schließt Ankara selbst einen Einsatz der Streitkräfte nicht mehr aus, falls die Verstärkung der Polizei durch die militärisch aufgestellte Gendarmerie nicht reichen sollte.

"Uns fehlen die Worte"

Die brutale Räumung ihres Protestlagers im Istanbuler Gezi-Park hat die Demonstranten schockiert. "Uns fehlen die Worte, das hat unser Land nicht verdient", teilte die Taksim-Plattform mit, die zu den wichtigsten Organisatoren der Protests gehört. Es sei nun klar, dass das eigentliche Ziel die Unterdrückung des Volkes sei, "so dass wir unsere Rechte nicht einfordern und unseren Stimmen kein Gehör verschaffen können".

Als Demonstration der Macht führte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan die große Zahl seiner Unterstützer vor. Hunderttausende Anhänger seiner Regierungspartei AKP versammelten sich in Istanbul, um seine Rede zu hören, in der er die Demonstranten als "Terroristen" und "Gesindel" beschimpfte. Ausländische Medien zeichneten ein Zerrbild der Türkei, sagte er. Mit Großeinsätzen der Polizei und mit Hilfe der militärisch aufgestellten Gendarmerie lässt er nun Zehntausende Demonstranten in Schach halten.

Eine neue Meinungsumfrage müsste die AKP aber besorgt stimmen. Demnach ist die Partei zwar aktuell mit rund 35 Prozent weiter die mit Abstand stärkste Kraft, hat aber deutlich eingebüßt. Etwa die Hälfte der Befragten meinte zudem, die Regierung werde autoritärer, die Presse sei nicht frei. Mehr als 54 Prozent sagten, die Regierung mische sich zunehmend in die Lebensweise der Bürger ein. Und nur noch knapp ein Drittel will den von Erdogan betriebenen Wechsel zu einem Präsidialsystem - mit einem starken Mann an der Spitze.

Weggefährten distanzieren sich

Auch ehemalige Weggefährten gehen auf Distanz zu Erdogan. Fatma Bostan Ünsal war Gründungsmitglied der AKP. Sie sieht den Ministerpräsidenten vom eigentlichen Kurs abkommen. "Wir haben bei der Parteigründung vor zehn Jahren gesagt, dieses Land brauche endlich eine Partei, die den Menschen zuhört und sie nach ihrer Meinung, nach ihren Vorschlägen fragt. Und die nicht nach den alten Mustern auf Kritik reagiert", sagte sie vor einigen Tagen in einem Interview mit dem Sender Arte.

Zwar ruft Erdogan bei jeder seiner Reden auch zur Ruhe auf. Immer sagt er, dass seine Partei mehrfach Wahlen gewonnen habe und eine Ablösung nur an der Wahlurne möglich sei. Aber seine Rhetorik heizt die Stimmung immer mehr auf.

In der Nacht zum Montag mischten sich laut Augenzeugen erstmals mit Knüppeln und Messern bewaffnete Anhänger Erdogans in die Straßenkämpfe rund um den Taksim-Platz ein. Sie riefen: "Im Namen Gottes" und "Erdogan". Ein Büro der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) wurde attackiert. Die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen (Die Linke) erklärte am Montag: "Ich konnte im Istanbuler Stadtteil Sishane beobachten, wie Unterstützer von Erdogan unter den Augen der Polizei potenziellen Protestierenden mit Messern drohten."

(dpa/AFP/jre/hüls)
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