Eine Studentin berichtet aus der Türkei "Seit der Putschnacht habe ich Angst"

Istanbul · Die Studentin Azra D.* lebt in Istanbul. Hier schreibt sie, wie sie die Putschnacht in der Türkei erlebt hat und wie sich seitdem ihr Alltag verändert hat.

 Azra D. (Name geändert) studiert in Istanbul Soziologie. Aus Angst vor wütenden Demonstranten versucht sie, ihre Wohnung nicht mehr allzu oft zu verlassen.

Azra D. (Name geändert) studiert in Istanbul Soziologie. Aus Angst vor wütenden Demonstranten versucht sie, ihre Wohnung nicht mehr allzu oft zu verlassen.

Foto: Azra D.

Ich habe anfangs gar nicht verstanden, was das alles bedeutet. An dem Abend, als das Militär für einige Stunden die Herrschaft über das Land an sich riss, war ich bei Freunden auf der europäischen Seite von Istanbul zu Besuch. Es gibt keine Nacht, an die ich mich erinnern kann, die mein Leben so einscheidend verändert hat, wie diese.

Es ging damit los, dass ich eigentlich nach Hause auf die asiatische Seite von Istanbul wollte. Und ich hörte, dass dies nicht möglich sei, weil das Militär die Brücke gesperrt hatte. Dann hörte ich die Hubschrauber über der Stadt. Und wir fragten uns, ob das, was wir hörten, Bomben oder Schüsse waren. Dass gerade ein Putsch im Gange war, wussten wir zu dem Zeitpunkt noch immer nicht.

Unsere erste Reaktion in diesem Moment war der Griff zum Smartphone. Ging es den Eltern und dem Rest der Verwandtschaft gut? Ich habe eine Whatsapp-Gruppe, in der sich meine Familie austauscht. Im Chat erörterten wir dann die Möglichkeit eines Putschs — bis im Fernsehen die Botschaft des Militärs verlesen wurde. Danach hatten wir eigentlich noch mehr Fragen als zuvor.

"Mehrere meiner Freunde sind gerade dabei, das Land zu verlassen"

Seit mehr als einem Jahr sorge ich mich sehr darum, wie sich unser Land entwickelt. Doch seit der Putschnacht habe ich Angst. Angst davor, dass meine schlimmsten Befürchtungen wahr werden. Vieles, von dem, was in den vergangenen Wochen in der Türkei passiert ist, hätte ich nicht für möglich gehalten — doch es ist passiert. Ich muss damit rechnen, dass dies wieder geschieht.

Da wäre zum Beispiel das Dienstreise-Verbot für Akademiker. Ich studiere Soziologie an der Universität Istanbul und bin von dem Reiseverbot selbst nicht betroffen. Aber mehrere meiner Freunde sind gerade dabei, das Land zu verlassen. In meinem Bekanntenkreis gibt es viele, die so denken: Das Leben, das wir einmal geführt haben, ist in der Türkei nun nicht mehr möglich. Ich will hier nicht weg. Aber wenn es so weitergeht, bleibt mir wohl auch nichts anderes übrig, als zu fliehen.

Das Hauptproblem: Präsident Erdogan agiert wie ein Wahnsinniger. Dass ihm nahezu jedes Mittel recht ist, um seine Macht auszubauen, macht ihn unberechenbar — und so gefährlich. Die vergangenen Tage haben gezeigt, dass er auch nicht davor zurückschreckt, unser Land an den Rand eines Bürgerkriegs zu führen. Journalisten haben Angst, negativ über Erdogan zu schreiben, wir normalen Bürger müssen uns fürchten, für kritische Äußerungen verhaftet zu werden.

"Ich versuche, nicht mehr so oft das Haus zu verlassen"

Die Angst ist immer da: Zum einen, wenn ich im Internet unterwegs bin: Ich äußere mich gelegentlich zu politischen Themen bei Facebook. Meine Mutter warnt mich dann immer, weil sie fürchtet, dass mir Konsequenzen drohen könnten. Aber auch im richtigen Leben: Gestern Abend bin ich zufällig in eine Gruppe von Erdogan-Unterstützern geraten, die auf den Straßen demonstriert haben. Ich habe ein Tattoo und etwas Dekolletée — ich habe versucht, niemandem in die Augen zu sehen und möglichst schnell das Weite zu suchen.

Generell versuche ich, nicht mehr so oft das Haus zu verlassen. Und ich weiß, dass viele das gleiche tun. Auf den Straßen sieht man überall Erdogans Anhänger — sie sind schließlich die einzigen, die demonstrieren können, ohne dafür Repressalien fürchten zu müssen. Ich fühle mich wie im Bürgerkrieg. Es ist unheimlich zu sehen, wie aus normalen Menschen potenzielle Mörder werden, die auf ihre Mitbürger und Soldaten losgehen.

Das Militär spielte in der Geschichte des türkischen Staates schon immer eine besondere Rolle. Erdogan hat in den vergangenen Jahren versucht, den Einfluss des Militärs auf die Regierung einzudämmen. Das wird sicherlich bei dem Putsch und der Abwehr desselben eine Rolle gespielt haben. Aber das, was wir nun stattdessen bekommen, ist alles andere als eine Demokratie. Erdogan ist dabei, ein islamisches Regime zu installieren.

Protokoll: Sven Grest

* Name von der Redaktion geändert

(gre)
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