Belgien weitet Sterbehilfe aus Wenn Kinder sterben wollen

Brüssel · In Belgien verabschiedete das Abgeordnetenhaus die Ausweitung der Sterbehilfe auf Kinder. Kritiker wie die Kirche, Hospizvereine und christliche Politiker fürchten jetzt auch einen Dammbruch bei ethischen Werten.

 Der Blick auf die Intensivstation des Fabiola-Kinderkrankenhauses in Brüssel.

Der Blick auf die Intensivstation des Fabiola-Kinderkrankenhauses in Brüssel.

Foto: ap

Es ist der rührende Appell eines lebenshungrigen Mädchens an einen König: "Bitte unterschreibe das Euthanasie-Gesetz nicht — zum Wohle der Kinder dieser Welt", fleht Jessica Saba (4) in einer Videobotschaft an den belgischen Monarchen Philippe. Die Kanadierin kam zur Welt mit einem schweren Herzfehler, schien dem Tod geweiht. Nach Dutzenden Operationen ist sie heute ein fröhliches Mädchen, das sein frühkindliches Leiden zu vergessen haben scheint. Ihr Vater Paul, selbst Mediziner, erzählt: "Wäre Jessica in einem Land geboren worden, wo es Sterbehilfe für Minderjährige gibt, wäre sie vermutlich tot."

Für ihn ist es ein ethischer Dammbruch, was gerade in Belgien passiert. Dort verabschiedete das Abgeordnetenhaus gestern die Ausweitung der Sterbehilfe auf Kinder. Nur noch König Philippe kann das Gesetz aufhalten. Denn es braucht zum Inkrafttreten die Unterschrift des Staatsoberhauptes. Der Vater von vier Kindern hat sich bisher in der heiklen Frage öffentlich nicht positioniert. Deshalb drehte Paul Saba die Videobotschaft seiner Tochter, die auf der Internetseite der flämischen Zeitung "Het Laatste Nieuws" zu sehen ist.

Drei von vier Belgiern unterstützen die Pläne

Jessicas Aufruf wird wahrscheinlich wirkungslos bleiben. Denn in Umfragen unterstützen drei von vier Belgiern die Pläne. Das Königreich ist nach den Niederlanden das zweite EU-Land, das Sterbehilfe für Kinder legalisiert. Während die Niederlande das Recht auf Jugendliche über zwölf Jahre beschränkt, sieht das belgische Gesetz keinerlei Altersgrenze vor. Voraussetzung ist, dass der junge Patient unheilbar krank ist. Er muss unter starken Schmerzen leiden, für die es keine Medikamente zur Linderung gibt. Ein Psychologe soll bezeugen, dass der kindliche Patient urteilsfähig und in der Lage ist, die Entscheidung zum Sterben zu fassen. Das kranke Kind muss mündlich und schriftlich deutlich und mehrmals den Sterbewunsch bekunden. Die Eltern müssen zustimmen. Befürworter der neuen Regeln halten diese Bedingungen für ausreichend, um Missbrauch zu verhindern. Das Gesetz sei demnach so eng gefasst, dass es nur eine Handvoll Kinder mit tödlichen Krankheiten im fortgeschrittenen Stadium erfasse, sagt Gerlant van Berlaer, Kinderarzt an der Universitätsklinik Brüssel.

Als Beispielfall erzählt er die Geschichte eines 15-jährigen Jungen mit unheilbarem Knochenkrebs. Zwei Jahre verbrachte dieser im Krankenhaus — meist auf der Isolierstation und mit starken Schmerzen. Sein Immunsystem war so schwach, dass kaum Besucher zu ihm durften. Sein größter Wunsch: eine Abschieds-Party mit Freunden — und dann im Beisein seiner Eltern zu sterben. Die Ärzte mussten ihn am Leben halten. Er erlag schließlich seiner Krankheit — elend und allein.

Kirchen und Patientenverbände laufen hingegen Sturm gegen das Gesetz. Es könne nicht sein, dass Minderjährige zwar nicht heiraten, wählen und ein Haus kaufen, aber über ihren Tod entscheiden dürfen, so der belgische Bischof André-Joseph Léonard. In einem Aufruf warnten christliche, jüdische und muslimische Gemeinden in Belgien: "Wir sollten den Tötungsakt nicht verharmlosen."

Die Kritiker fürchten einen Dammbruch. Sie verweisen auf die Entwicklung bei der Sterbehilfe für Erwachsene: Üblicherweise geben Ärzte den Patienten ein Betäubungsmittel, bevor sie mit der Injektion eines weiteren Mittels den Herzstillstand herbeiführen. Bereits 2002 wurde diese Praxis in Belgien legalisiert. Seither stiegen die Fallzahlen von 235 im Jahr 2003 auf 1432 im vergangenen Jahr. Dies entspricht rund zwei Prozent aller gemeldeten Todesfälle. Auch die Anwendungsbereiche wurden ausgedehnt. "Ich befürchte eine Veränderung der gesellschaftlichen Einstellung zu Krankheit und Tod", sagt Peter Liese (CDU), Ethikexperte im Europa-Parlament. "Anstatt den Patienten, auch wenn sie unheilbar krank sind, bestmöglich zu helfen, wird der ,billige Weg' der Tötung auf Verlangen immer mehr Oberhand gewinnen."

Ohnehin gibt es seit Jahren Tendenzen, der Ethik das Grundsätzliche zu nehmen — als sei unser sittliches Verständnis vom Leben Zeitströmungen unterworfen und nicht das Fundament unseres Menschenbildes, das sich aus der griechischen Philosophie entwickelt hat. Gern ist jetzt von einer "liberalen Ethik" die Rede, eine Terminologie, die Handeln flexibel zu machen und zu rechtfertigen scheint. Die in manchen Ländern Europas zunehmende Bereitschaft, Sterbehilfe mit Auflagen zu legalisieren, entspringt aber keineswegs einer erkenntnistheoretischen Entwicklung. Sie ist die Folge unserer Hochleistungsmedizin, die zwar segensreich ist, zugleich aber unseren Wunsch beflügelt hat, es könne auch eine Art guten Tod geben; nichts anderes bedeutet Euthanasie.

Es gibt keinen guten Tod

Den guten Tod aber gibt es nicht. Man kann allenfalls hoffen, das Sterben möge schmerzfrei sein und nach Möglichkeit sanft. Wer den guten Tod fordert, verkennt, dass unser Leben etwas Gegebenes ist. Daraus erwächst unser Bild von gleichberechtigten und gleichwertigen Menschen. Wer aus dem gegebenen Leben ein gemachtes schnitzt, erschafft ein Menschenbild nach seinen Maßstäben. Die Präimplantationsdiagnostik ist bei diesem Paradigmenwechsel ein weiterer Baustein.

Wer die Euthanasie befürwortet und legalisiert, kann aus empathischen Menschen Vollzieher machen. Es reicht, sich die jetzt in Belgien vorgestellte Exekution der Sterbehilfe einmal konkret und in seinem "Verwaltungsvorgang" vorzustellen. Ein Gutachten wird vom Arzt bestellt, ein Psychologe befragt, die Zustimmung der Eltern eingeholt. Sie alle werden Teil des Euthanasie-Vollzugs. Sie alle müssen damit leben und umgehen können. Der Kreis jener Betroffenen, die mitbeteiligt sind am Tod eines Menschen, ist groß.

(RP)
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